Wenn Arbeitnehmer überdurchschnittlich häufig oder lange arbeitsunfähig erkranken, stellen sich für Arbeitgeber eine Vielzahl an Fragen, die häufig auch mit der Durchführung des betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) nach § 167 Abs. 2 SGB IX verbunden sind: Wird der Arbeitnehmer die geschuldete Tätigkeit, ggf. auch durch Zuhilfenahme betrieblicher Eingliederungsmaßnahmen, weiterhin ausführen können? Ist für eine zukünftige Genesung eine andere, leidensgerechte Beschäftigung notwendig? Und selbstverständlich auch: Ist der Arbeitnehmer überhaupt arbeitsunfähig erkrankt? Für die Beantwortung dieser Fragen sind Arbeitgeber auf detailliertere Informationen angewiesen als sie sich aus der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ergeben.

Im Bereich des öffentlichen Dienstes bzw. bei Arbeitgebern, die entsprechende Tarifverträge ausdrücklich in Bezug nehmen, eröffnet § 3 Abs. 4 des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) bzw. § 3 Abs. 5 des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) die Möglichkeit „bei begründeter Veranlassung" einen Arbeitnehmer anzuweisen, sich von einem Amtsarzt, Personalarzt oder Betriebsarzt untersuchen zu lassen. Eine solche begründete Veranlassung besteht, wenn ein sachlicher Grund für die Anordnung der Untersuchung vorliegt, der sowohl in der Fürsorgepflicht für die Beschäftigten selbst und für die mit ihnen arbeitenden Beschäftigten als auch im sonstigen Pflichtenkreis des Arbeitgebers begründet sein kann (z.B. begründete Zweifel an der Arbeitsfähigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers bzw. die Feststellung, ob der Beschäftigte in Zukunft überhaupt noch die arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit ausüben kann). In der Praxis war die Anordnung der ärztlichen Untersuchung häufig aber ein stumpfes Schwert, weil sich der Arbeitnehmer regelmäßig mit bloßem Hinweis auf seine bestehende Arbeitsunfähigkeit der Untersuchung entzog. Nach einer aktuellen Entscheidung des LAG Nürnberg (Urteil vom 19.05.2020 – 7 Sa 304/19) müssen sich Arbeitgeber mit diesem pauschalen Einwand in Zukunft richtigerweise nicht mehr begnügen.

I. Sachverhalt

Gegenstand des Rechtsstreits war die Entfernung einer Abmahnung aus der Personalakte. Der Kläger war bei der Beklagten als Schreiner beschäftigt. Kraft Bezugnahme im Arbeitsvertrag fand der TV-L auf das Arbeitsverhältnis Anwendung. Im Jahr 2018 war der Kläger an insgesamt 75 Tagen wiederholt arbeitsunfähig erkrankt. Ausweislich einer Bescheinigung des behandelnden Arztes sollte er aus gesundheitlichen Gründen bis Ende des Jahres keine Gegenstände mit einem Gewicht über 10 kg heben. Anfang 2019, als der Kläger erneut und für einige Monate krankgeschrieben wurde, wies ihn die Beklagte schriftlich an, Ende Januar einen Termin beim ärztlichen Dienst wahrzunehmen. Auf Veranlassung des Klägers wurde der Termin um ein paar Wochen verschoben, ohne dass dieser den neuen Termin aber wahrnahm. Daraufhin sprach die Beklagte eine Abmahnung wegen Verstoßes gegen die arbeitsvertragliche Nebenpflicht aus § 3 Abs. 5 TV-L aus. Mit der Klage begehrte der Kläger sodann die Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte.

Im Prozess machte der Kläger geltend, dass er nicht verpflichtet gewesen sei, den Untersuchungstermin wahrzunehmen. Die Beklagte habe den Termin nicht zu einem Zeitpunkt anordnen dürfen, in welchem eine ärztlich festgestellte Arbeitsunfähigkeit des Klägers vorgelegen habe. Die Erteilung von Weisungen bei bestehender Arbeitsunfähigkeit sei auf dringende betriebliche Anlässe zu beschränken, da in diesen Fällen eine latente Gefahr der Beeinträchtigung des Genesungsprozesses drohe. Insbesondere sei eine amtsärztliche Untersuchung stets mit einer psychischen Belastung verbunden.

II. Rechtliche Erwägungen des LAG

Der Auffassung des Klägers folgten weder das Arbeitsgericht (ArbG) noch das LAG Nürnberg. Das LAG bejahte vielmehr die Zulässigkeit der Anordnung und stellte zutreffend fest, dass die tarifliche Regelung nach Sinn und Zweck gerade nicht voraussetzt, dass der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Untersuchung arbeitsfähig sein muss. Folgende tragenden Erwägungen stellt das LAG hierbei an:

  • Der Kläger war auf Aufforderung der Beklagten verpflichtet, sich durch den ärztlichen Dienst untersuchen zu lassen. Die von § 3 Abs. 5 TV-L vorausgesetzte „begründete Veranlassung" ergebe sich hier aus der Zusammenschau der hohen Zahl von 75 krankheitsbedingten Fehltagen im Jahr 2018, der Vorlage des Attestes des behandelnden Arztes zur Einschränkung beim Heben schwerer Gegenstände sowie der sich daran anschließenden Arbeitsunfähigkeit Anfang 2019.
  • Die tarifliche Regelung setze weder nach Wortlaut noch nach Sinn und Zweck voraus, dass der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Untersuchung arbeitsfähig ist. Die Untersuchung solle dem Zweck dienen, festzustellen, ob der Arbeitnehmer zur Leistung der vertraglich vereinbarten Arbeit imstande ist oder nicht. Daher könne sich die Durchführung der Untersuchung gerade dann anbieten, wenn der Arbeitnehmer arbeitsunfähig erkrankt ist.
  • Die Untersuchung sei ferner relevant für die Erfüllung der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers. So könne festgestellt werden, ob der Arbeitnehmer noch generell in der Lage sei, die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen und welche Maßnahmen der Arbeitgeber ggf. ergreifen kann, um weitere Arbeitsunfähigkeitszeiten zu vermeiden. Schließlich sei es auch die Pflicht des Arbeitgebers, dafür zu sorgen, dass der Arbeitnehmer nicht überfordert werde. Allein auf Basis der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei diese Beurteilung nicht möglich, da sich diese weder zu den Gründen der Arbeitsunfähigkeit noch zu den genauen Leistungseinschränkungen verhalte.
  • Die Anordnung wahre zudem die Grenzen des billigen Ermessens (§ 106 GewO, § 315 BGB). In dem Vortrag des Klägers hätten sich keine Anhaltspunkte dafür gefunden, dass der Kläger aus in seiner Person liegenden Gründen – z.B. fehlende Transportfähigkeit oder das Vorliegen einer besonders ansteckenden Krankheit – nicht zur Untersuchung hätte erscheinen können. Zudem gäbe es keinen allgemeinen Erfahrungssatz, dass der Besuch eines Amtsarztes ohne besondere Umstände die Psyche eines Patienten so belastet, dass allein mit dem Arztbesuch eine Beeinträchtigung des Heilungsverlaufs verbunden wäre.

Im Ergebnis war der Kläger damit nicht berechtigt, die Teilnahme an der Untersuchung zu verweigern und die Abmahnung aufgrund der Nebenpflichtverletzung erfolgte zurecht.

III. Praxishinweise

Für die Praxis bedeutet das Urteil des LAG Nürnberg zunächst, dass die tariflich vorgesehene (amts)ärztliche Untersuchung auch im laufenden Arbeitsverhältnis unabhängig von der Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers zulässigerweise angeordnet werden kann. Dies ist zu begrüßen, weil beim Vorliegen der tariflichen Voraussetzungen der Arbeitnehmer im Regelfall dauerhaft oder jedenfalls langfristig erkrankt ist und bei einem anderen Verständnis die Regelung weitgehend leerliefe.

Erscheint der Arbeitnehmer ohne hinreichende Entschuldigung nicht zur amtsärztlichen Untersuchung, kann dies nicht nur – wie im vorliegenden Fall – eine Abmahnung, sondern unter Umständen gar auch eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen. Die Verletzung einer tarif- oder einzelvertraglich geregelten Nebenpflicht des Arbeitnehmers, bei begründeter Veranlassung auf Verlangen des Arbeitgebers an einer ärztlichen Untersuchung zur Feststellung seiner Arbeitsfähigkeit mitzuwirken, ist nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgericht „an sich" geeignet, einen wichtigen Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB darzustellen (vgl. BAG v. 25.01.2018 – 2 AZR 382/17).

Als unzureichende Entschuldigung ist es unter Berücksichtigung der Ausführungen des LAG Nürnberg zu werten, wenn der Arbeitnehmer lediglich pauschal auf seine Arbeitsunfähigkeit verweist. Er muss vielmehr konkret Gründe darlegen und im Zweifelsfall auch beweisen, wonach in seiner Person liegende Umstände eine Untersuchung unzumutbar machen. Dies wird nur in Ausnahmefällen, etwa einer hochansteckenden Krankheit oder der fehlenden Transportfähigkeit, gelingen können.

Zu beachten für öffentliche Arbeitgeber sind schließlich die Beteiligungsrechte des Personalrats, die je nach Bundesland anders ausgestaltet sind. So ist beispielsweise in Nordrhein-Westfalen der Personalrat gemäß § 75 Abs. 1 Nr. 4 Landespersonalvertretungsgesetz Nordrhein-Westfalen (LPVG NRW) bei der Anordnung von amts- und vertrauensärztlichen Untersuchungen zur Feststellung der Arbeits- oder Dienstfähigkeit anzuhören. Da es sich hierbei lediglich um ein Anhörungsrecht handelt, beeinflusst eine abweichende Einschätzung des Personalrats die Rechtmäßigkeit der Untersuchungsanordnung nicht. Eine Anordnung ohne vorherige Anhörung führt jedoch zu deren Unwirksamkeit. Noch deutlich weitgehender etwa ist die Regelung in Schleswig-Holstein, wonach gemäß §§ 2 Abs. 1, 51 Abs. 1 Mitbestimmungsgesetz Schleswig-Holstein (MBG SH) ein umfassendes Mitbestimmungsrecht des Personalrats besteht.

Bei Fragen zu diesem Themenkreis oder länderspezifischen Ausnahmen sprechen Sie uns gerne an.