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LAG Niedersachsen: Darlegungs- und Beweislast in vergütungsrechtlichen Verfahren bei fehlendem Arbeitszeiterfassungssystem

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Aus der Entscheidung des EuGH vom 14. Mai 2019 (C - 55/18) zur Einrichtung eines Arbeitszeiterfassungssystems folgt nicht, dass der Arbeitgeber seiner sekundären Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess nicht genügen kann, wenn er auf vom Arbeitnehmer vorgelegte Eigenaufzeichnungen keine Daten aus einem objektiven, verlässlichen und zugänglichen System zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit vortragen kann. Das Urteil des EuGH hat insofern keine Aussagekraft. Dies entschied das LAG Niedersachsen mit Urteil vom 6. Mai 2021 (5 Sa 129/20) und änderte damit die vorangegangene Entscheidung des ArbG Emden vom 9. November 2020 (2 Ca 399/18) ab. Das LAG Niedersachsen hat die Revision zum BAG zugelassen.


I.

Hintergrund: Urteil des EuGH zur Einrichtung eines Systems zur Aufzeichnung der Arbeitszeit

Hintergrund der Entscheidungen des ArbG Emden und des LAG Niedersachsen ist das Urteil des EuGH vom 14. Mai 2019 zur Auslegung der Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG) der Europäischen Union (genauer: zu den Art. 3, 5 und 6 der RL 2003/88/EG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1, 6 Abs. 1 der RL 89/319/EWG sowie Art. 31 Abs. 2 der Europäischen Grundrechtecharta (GRCh)).
Auf Vorlage des Nationalen Gerichtshofs von Spanien (Audiencia Nacional) entschied der EuGH, dass den vorgenannten Vorschriften nationale Regelungen entgegenstehen, die Arbeitgeber nicht verpflichten, ein System einzurichten, mit dem die von jedem Arbeitnehmer täglich geleistete Arbeitszeit gemessen werden kann. Denn eine solche nationale Regelung mache das Recht eines jeden Arbeitnehmers auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten gemäß den Art. 3, 5 und 6 der RL 2003/88/EG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 2 GRCh in Ansehung der Art. 4 Abs. 1, 6 Abs. 1 der RL 89/391/EWG erforderlich. Das Arbeitszeiterfassungssystem müsse „objektiv, verlässlich und zugänglich“ sein. Es obliege den Mitgliedsstaaten, „[…] im Rahmen des ihnen insoweit eröffneten Spielraums, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Systems […]“ festzulegen. Jedoch sei eine nationale Regelung, die – wie die spanische Vorschrift (Art. 35 Abs. 5 Estatuto de los Trabajadores (Arbeitnehmerstatut)) – den Arbeitgeber lediglich zur Erfassung von Überstunden verpflichtet, nicht ausreichend.

II.

ArbG Emden: Folgerungen aus der Entscheidung des EuGH im Zusammenhang mit vergütungsrechtlichen Fragen

Auf die Entscheidung des EuGH vom 14. Mai 2019 bezog sich die 2. Kammer des ArbG Emden in drei Urteilen aus dem Jahr 2020. Alle Verfahren betrafen im Kern Streitigkeiten zur Thematik der Arbeitszeit im vergütungsrechtlichen Sinn:
Mit Urteil vom 20. Februar 2020 gab das ArbG Emden der Klage eines als Bauhelfer tätigen Arbeitnehmers auf Vergütungsnachzahlung mit der Begründung statt, maßgeblich für die Berechnung der Vergütung sei die vom Arbeitnehmer auf Grundlage von Eigenaufzeichnungen im Prozess vorgetragene Arbeitszeit. Der Arbeitgeber komme seiner sekundären Darlegungs- und Beweislast nicht ausreichend nach, wenn er dem Vortrag des Arbeitnehmers nicht anhand von aus einem System zur Arbeitszeiterfassung ermittelten objektiven und verlässlichen Daten entgegentritt. Denn zur Einrichtung eines solchen Systems zur Arbeitszeiterfassung sei der Arbeitgeber ausgehend von der Entscheidung des EuGH zur Einrichtung eines Arbeitszeiterfassungssystems unmittelbar aus Art. 31 Abs. 1 GRCh verpflichtet, sodass dessen Fehlen eine Verletzung der Schutz- und Rücksichtnahmepflichten des Arbeitgebers aus § 241 Abs. 2 BGB darstelle. Der unter Vorlage von Eigenaufzeichnungen geleistete Vortrag des Arbeitnehmers gelte damit als zugestanden gemäß § 138 Abs. 3 ZPO.
Daran anknüpfend stellte das ArbG Emden mit Urteil vom 24. September 2020 (2 Ca 144/20) weiterhin fest, durch das Urteil des EuGH werde die abgestufte Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess dergestalt modifiziert, dass die positive Kenntnis des Arbeitgebers von geleisteten Überstunden, die Voraussetzung für deren Abrechenbarkeit und Vergütungspflicht ist, nicht erforderlich sei, wenn der Arbeitgeber sich diese Kenntnis durch Einsichtnahme in das Arbeitszeiterfassungssystem selbst verschaffen kann, dies aber nicht getan hat. Denn zur Einrichtung eines Arbeitszeiterfassungssystems sei der Arbeitgeber angesichts der Entscheidung des EuGH in europarechtskonformer Auslegung von § 618 Abs. 1 BGB, jedenfalls aber von § 241 Abs. 2 BGB, verpflichtet. Insbesondere könnten auch Arbeitszeitaufzeichnungen, die primär arbeitszeitrechtlichen Zwecken dienten, vergütungsrechtliche Bedeutung entfalten.
Diese Argumentation führte die 2. Kammer des ArbG Emden schließlich in ihrer Entscheidung vom 9. November 2020 (2 Ca 399/18) fort, indem sie dem klagenden Arbeitnehmer Überstundenvergütung auf Grundlage technischer Aufzeichnungen zusprach, obwohl zwischen den Parteien streitig war, ob diese technischen Aufzeichnungen zur Erfassung vergütungspflichtiger Arbeitszeit erfolgten. Dies begründete die Kammer – erneut unter Bezugnahme auf § 618 BGB in europarechtskonformer Auslegung – mit der Pflicht des Arbeitgebers zur Einrichtung eines Systems zur Erfassung und Kontrolle der Arbeitszeiten des Arbeitnehmers. Fehle ein solches System, reichten nicht zur Erfassung vergütungspflichtiger Arbeitszeit erstellte technische Aufzeichnungen als Indiz für geleistete Arbeitszeiten bzw. Überstunden aus.
Nachdem die Kammer in ihrer ersten Entscheidung vom 20. Februar 2020 die vergütungsrechtliche Bedeutung des Fehlens eines Systems zur Arbeitszeiterfassung noch aus einer unmittelbaren Wirkung des in Art. 31 Abs. 2 GRCh verankerten Rechts auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten hergeleitet hatte, ließ sie dies in den beiden letztgenannten Entscheidungen offen und stellte auf eine europarechtskonforme Auslegung nationaler Rechtsvorschriften, nämlich § 618 BGB, hilfsweise § 241 Abs. 2 BGB, ab.

III.

LAG Niedersachsen: Urteil des EuGH ohne Aussagekraft für die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess

Gegenstand des Berufungsurteils des LAG Niedersachsen vom 6. Mai 2021 war die letzte vorerwähnte Entscheidung des ArbG Emden vom 9. November 2020. Begründung und Ergebnis der Berufungsentscheidung dürften sich aber in gleicher Weise auf die übrigen Urteile des ArbG Emden auswirken.
Die 5. Kammer des LAG Niedersachsen widersprach dem ArbG Emden und stellte fest, das Urteil des EuGH zur Einrichtung eines Arbeitszeiterfassungssystems habe keine Aussagekraft für die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess. Bislang sind die Entscheidungsgründe des Berufungsurteils nicht veröffentlicht. In der bislang vorliegenden Pressemitteilung des LAG Niedersachsen wird die Entscheidung jedoch bereits ausdrücklich damit begründet, dass dem EuGH aufgrund der Regelung des Art. 153 AEUV keine Kompetenz zur Entscheidung über Fragen der Vergütung zukomme. Art. 153 Abs. 5 AEUV sieht vor, dass die Kompetenzzuweisung an die Europäische Union auf dem Gebiet des Arbeitsrechts nicht für das Arbeitsentgelt gilt.
Damit schließt sich das LAG Niedersachsen im Ergebnis der vielfältigen Kritik im Schrifttum an den Entscheidungen des ArbG Emden an. Richtigerweise ist entgegen der Auffassung des ArbG Emden zwischen Arbeitszeit im vergütungsrechtlichen Sinne und Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne zu differenzieren. Während die Entscheidung des EuGH Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinn behandelte, war Gegenstand der Verfahren vor dem ArbG Emden Arbeitszeit in vergütungsrechtlicher Hinsicht. Darauf kann die Entscheidung des EuGH nicht übertragen werden, da den Institutionen der Europäischen Union für vergütungsrechtliche Fragen keine entsprechende Kompetenz zusteht. Dies gilt unabhängig davon, ob eine vermeintliche Pflicht des Arbeitgebers zur Einrichtung eines Arbeitszeiterfassungssystems bereits vor Schaffung einer entsprechenden nationalen Umsetzungsvorschrift mit der unmittelbaren Wirkung von Art. 31 Abs. 2 GRCh oder einer europarechtskonformen Auslegung von § 618 BGB/§ 241 Abs. 2 BGB zu begründen versucht wird.
Daneben ist den Entscheidungen des ArbG Emden entgegenzuhalten, dass der auch vom EuGH in seiner Entscheidung zur Einrichtung eines Arbeitszeiterfassungssystems anerkannte Spielraum der Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung einer Arbeitszeiterfassung unterlaufen würde.
Nachdem das LAG Niedersachsen die Revision zum Bundesarbeitsgericht zugelassen hat, ist in absehbarer Zeit mit einer höchstrichterlichen Entscheidung jedenfalls zu den Auswirkungen der EuGH-Entscheidung auf die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess zu rechnen. Die praktisch ebenso relevante Fragestellung, ob Arbeitgeber bereits vor einer Neuregelung des Arbeitszeitgesetzes durch den deutschen Gesetzgeber zur Einführung eines Systems zur (elektronischen) Zeiterfassung verpflichtet sind und Betriebsräte die Einführung eines solchen Systems notfalls über die Einigungsstelle erzwingen können, bleibt dagegen vermutlich bis auf weiteres höchstrichterlich ungeklärt.

Autoren dieses Beitrags

Michelle-Maria
Leppin

Thomas
Faas

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