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Ständige Erreichbarkeit: Fluch und Segen in der digitalen Arbeitswelt (BAG, Urteil vom 23. August 2023 – 5 AZR 349/22)

erreichbarkeit
Das digitale Zeitalter hält auch Einzug in die Arbeitswelt – kurz noch ein Telefonat über die Freisprechanlage auf dem Heimweg führen oder eine E-Mail lesen, während man gerade den Tisch für das Abendessen mit der Familie deckt.
Was für viele Arbeitgeber ein Segen ist, bringt für die Arbeitnehmenden jedoch oft auch Schattenseiten mit sich. Klare Grenzen zwischen Beruf und Privatleben sind kaum noch möglich und auch die gesundheitlichen Auswirkungen wie Schlafstörungen und Stress sind nicht zu unterschätzen. Doch wann bin ich als arbeitnehmende Person verpflichtet, für meinen Chef oder meine Chefin erreichbar zu sein? Unter anderem mit dieser Frage befasste sich das BAG im August 2023 (5 AZR 349/22).


I.

Der Sachverhalt

In der Entscheidung vom 23. August 2023 prüfte das BAG unter anderem, ob ein Rettungssanitäter auch in seiner Freizeit verpflichtet ist, Weisungen seines Arbeitgebers per SMS zur Kenntnis zu nehmen.
Der Kläger ist als Notfallsanitäter bei der Beklagten beschäftigt. Bei der Beklagten besteht eine Betriebsvereinbarung, die vorsieht, dass es sog. „Springerdienste“ gibt, bei denen der Dienstbeginn bis 20 Uhr des Vortags näher konkretisiert werden kann. Erfolgt keine weitere Konkretisierung, mussten sich die Mitarbeitenden während der Coronapandemie zu Dienstbeginn um 7:30 Uhr telefonisch einsatzfähig melden.
Laut des Dienstplans war der Sanitäter unter anderem für den 8. April als Springer eingeteilt. Am Mittag des 7. April übersandte die Beklagte eine SMS an den Kläger und teilte ihm Informationen zu dem zugeteilten Dienst am 8. April mit. Hiernach sollte er die Tagschicht ab 6:00 Uhr in der Rettungswache P übernehmen. Der Kläger erschien jedoch am 8. April nicht um 6:00 Uhr in P, sondern meldete sich lediglich um 7:30 Uhr telefonisch einsatzfähig. Hierauf erteilte die Beklagte dem Kläger eine Ermahnung und zog 11 Stunden vom Arbeitskonto ab.
Dieser Vorfall wiederholte sich erneut am 15. September. Der Kläger kam ebenfalls nicht der per SMS am Vortrag mitgeteilten Konkretisierung nach (Dienstbeginn 6.30 Uhr, Wache P), sondern meldete sich erneut lediglich telefonisch einsatzfähig. Auch diese Zeit wurde dem Kläger vom Arbeitszeitkonto abgezogen sowie eine Abmahnung wegen unentschuldigten Fehlens erteilt.
Der Sanitäter erhob Klage auf Wiedergutschrift der abgezogenen Arbeitsstunden sowie auf Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte. Er war der Auffassung, er sei nicht verpflichtet, sich während seiner Freizeit über die Dienstzuteilung zu informieren.
Nachdem die Vorinstanz dem Kläger noch Recht gab (LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 27. September 2022 – 1 Sa 39 öD/22), hob das BAG das Urteil des LAG auf.


II.

Die Entscheidung des BAG (5 AZR 349/22)

Das BAG entschied, dass der Sanitäter verpflichtet war, die Weisung seines Arbeitgebers per SMS zur Kenntnis zu nehmen und sich auch während seiner Freizeit über seine Dienstzeiten zu informieren. Nach Auffassung des Senats hat der Kläger an den streitgegenständlichen Tagen seine Arbeitsleistung nicht wie erforderlich ordnungsgemäß angeboten.
Im bestehenden Arbeitsverhältnis muss der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung so anbieten, wie sie zu bewirken ist, also zu rechten Zeit, am rechten Ort und in der rechten Art und Weise entsprechend der vertraglichen Vereinbarung bzw. deren Konkretisierung kraft Weisungsrechts des Arbeitgebers.
Der Kläger hatte sich im vorliegenden Fall jedoch lediglich telefonisch einsatzfähig gemeldet und war nicht - wie am Vortag per SMS mitgeteilt - zu der jeweiligen Zeit auf der konkreten Wache zum Dienst angetreten.
Der Senat stellte insbesondere fest, dass es sich beim Lesen der SMS auch nicht um Arbeitszeit im Sinne des Arbeitsschutzrechts handle. Hiernach läge Arbeitszeit vor, wenn Arbeitnehmende während einer Zeitspanne derartige Einschränkungen von solcher Art erfahren, dass die Möglichkeit der freien Gestaltung und Widmung der eigenen Interessen objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigt wird. Können Arbeitnehmende hingegen frei über diese Zeit verfügen und sich ohne größere Einschränkungen den eigenen Interessen widmen, läge keine Arbeitszeit vor.
Es handle sich im vorliegenden Fall vielmehr um eine Nebenpflicht aus dem Vertragsverhältnis, die Zuteilung des Dienstes zur Kenntnis zu nehmen. Diese folgte im konkreten Fall aus der Regelung der Betriebsvereinbarung, die die Möglichkeit des „Springerdienstes“ und der vorherigen Konkretisierung des jeweiligen Dienstes durch den Arbeitgeber umfasst. Der Kläger konnte den angestrebten Leistungserfolg nach Auffassung des Senats nur dann verwirklichen, wenn er auch die Nebenpflicht erfüllt und die Konkretisierung des Dienstes zur Kenntnis nimmt.
Die Beklagte war daher vorliegend nicht verpflichtet, die Arbeitsstunden wieder gutzuschreiben oder die Abmahnung aus der Personalakte zu entfernen.


III.

Verpflichtung zur ständigen Erreichbarkeit

Eine gesetzliche Verpflichtung, die eine pauschale ständige Erreichbarkeit von Arbeitnehmenden vorsieht, gibt es nicht.
Auch die Bereitstellung eines Diensthandys führt nicht dazu, dass Arbeitnehmende ständig und überall verfügbar und für den Arbeitgebenden erreichbar sein müssen. Arbeitsfreie Zeit soll der Erholung dienen, sodass Beschäftigte grundsätzlich nur während der vereinbarten Arbeitszeit zu einer Erreichbarkeit verpflichtet sind. Grundsätzlich darf die tägliche Arbeitszeit in der Regel maximal acht Stunden betragen, unter bestimmten Voraussetzungen kann diese auf bis zu 10 Stunden erweitert werden. Eine ständige Erreichbarkeit kann daher nicht wirksam vertraglich vereinbart werden.
Eine andere Bewertung ist erforderlich, wenn Arbeitnehmende Rufbereitschaft haben oder im Bereitschaftsdienst tätig sind. Während dieser Zeit muss eine ständige Erreichbarkeit gewährleistet sein.
Entscheidend ist somit der jeweilige Arbeitsvertrag oder auch die im Betrieb geltenden Betriebsvereinbarungen.


IV.

Fazit

Ob Arbeitnehmende auch während ihrer Freizeit erreichbar sein müssen oder zumindest Nachrichten des Arbeitgebers zur Kenntnis nehmen müssen, hängt vom Einzelfall ab.
Zu klären ist, was individual- oder kollektivrechtlich vereinbart wurde und ob die arbeitnehmende Person auch ohne Kenntnisnahme der Konkretisierung des Arbeitgebers ihre Arbeitsleistung ordnungsgemäß erbringen kann.
Im Einzelfall kann der Arbeitgeber also nach den betrieblichen Regeln berechtigt sein, die Arbeitsleistung für den darauffolgenden Tag näher zu konkretisieren. In diesen Fällen besteht dann eine vertragliche Nebenpflicht der Arbeitnehmenden, die per SMS mitgeteilte Weisung auch während ihrer Freizeit zur Kenntnis zu nehmen. Eine generelle Verpflichtung zur ständigen Erreichbarkeit besteht jedoch grundsätzlich nicht.

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