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Drohender Schadensersatz bei unterbliebener bzw. verspäteter Wiedereingliederung

Einleitung

Mit Urteil vom 23. Mai 2018 hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zum Rechtsanspruch schwerbehinderter Arbeitnehmer auf stufenweise Wiedereingliederung fortgeführt und insoweit festgestellt, dass eine Vereitelung dieses Anspruchs eine Schadensersatzpflicht des Arbeitgebers auslösen kann.

I. Die Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg vom 23. Mai 2018 – 15 Sa 1700/17

In seiner Entscheidung vom 23. Mai 2018 befasste sich das LAG Berlin-Brandenburg mit der Berufung einer Lehrerin, die gegenüber dem beklagten Land Schadensersatz in Höhe von insgesamt EUR 2.278,18 wegen verspäteter Durchführung einer Wiedereingliederungsmaßnahme nach dem Hamburger Modell geltend machte. Dem Rechtsstreit lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde:
Die Klägerin ist schwerbehindert und seit 1999 bei dem beklagten Land als Lehrerin beschäftigt. Sie erhält eine monatliche Vergütung in Höhe von EUR 3.601,49 (brutto). Seit dem 1. Oktober 2013 war sie arbeitsunfähig krank. Am 20. Januar 2015 beantragte die Klägerin unter Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung, in der als Zeitpunkt der Wiederherstellung der vollen Arbeitsfähigkeit der 28. März 2015 aufgeführt war, die Durchführung einer Wiedereingliederung, und zwar beginnend am 9. Februar 2015. Nachdem das beklagte Land den Antrag abgelehnt hatte, legte die Klägerin eine weitere ärztliche Bescheinigung zur Wiedereingliederung vor. Daraufhin schlossen die Parteien am 9. März 2015 einen Vertrag über eine stufenweise Eingliederung. Danach arbeitete die Klägerin in der Zeit vom 7. April bis 28. April 2015 zehn Unterrichtsstunden pro Woche, in den darauffolgenden zwei Wochen jeweils 16 Unterrichtsstunden und ab dem 13. Mai 2015 in Vollzeit, also 26 Unterrichtsstunden pro Woche.
Während der Wiedereingliederung erhielt die Klägerin eine lediglich anteilige Vergütung. Mit ihrer Klage machte sie die Zahlung der Differenz zwischen dem erhaltenen Betrag und der Vergütung, die sie bei voller Arbeitsfähigkeit und -leistung für die Monate April und Mai 2015 erreicht hätte, geltend.
Nachdem das Arbeitsgericht Berlin die Klage erstinstanzlich abgewiesen hatte, führte die hiergegen beim LAG Berlin-Brandenburg eingelegte Berufung für die Klägerin zum Erfolg. So kann – so das LAG Berlin-Brandenburg – ein schwerbehinderter Arbeitnehmer nach § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX a. F. (nunmehr § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX) unter bestimmten Voraussetzungen eine anderweitige Tätigkeit auch im Rahmen einer Wiedereingliederung verlangen. Dazu müsse der Arbeitnehmer eine ärztliche Bescheinigung des behandelnden Arztes vorlegen, aus der sich Art und Weise der empfohlenen Beschäftigung, etwaige Beschäftigungsbeschränkungen, Umfang der täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit sowie die Dauer der Maßnahme ergeben. Zudem sei erforderlich, dass die Bescheinigung eine Prognose dazu trifft, wann voraussichtlich die Wiederaufnahme der Tätigkeit erfolge. Komme der Arbeitgeber seiner Pflicht zur behinderungsgerechten Beschäftigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers schuldhaft nicht nach, stehe dem Arbeitnehmer ein Schadensersatzanspruch nach § 280 Abs. 1 BGB sowie § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a. F. (bzw. § 164 Abs. 4 Satz 1 SGB IX n. F.) in Höhe der entgangenen Vergütung zu.
Diese Voraussetzungen sah das LAG im zu entscheidenden Fall als erfüllt an. Das Land habe den Anspruch der Klägerin schuldhaft verletzt und insbesondere nicht vorgetragen, dass die Erfüllung dieses Anspruchs unzumutbar oder mit unverhältnismäßigem Aufwand verbunden gewesen wäre. Da in der ärztlichen Bescheinigung, an deren Richtigkeit mangels gegenteiligen Sachvortrags keine Zweifel bestünden, die Wiederherstellung der vollen Arbeitsfähigkeit mit dem 28. März 2015 prognostiziert worden sei, sei hinsichtlich der Kausalität anzunehmen, dass sich diese bei einem entsprechend früheren Beginn am 9. Februar 2015 bewahrheitet hätte. Daher sei der Klägerin der Vergütungsausfall in Höhe der Differenz zu ersetzen.

II. Bewertung der Entscheidung

Die Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg stellt eine Fortsetzung der BAG-Rechtsprechung hinsichtlich der Einordnung der stufenweisen Wiedereingliederung als anderweitige Tätigkeit im Sinne des § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a. F. (§ 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX n. F.) und des damit verbundenen Anspruchs des schwerbehinderten Arbeitnehmers auf entsprechende Vertragsänderung (so zuletzt BAG v. 13. Juni 2006 – 9 AZR 229/05) dar.
Vergleichsweise neu ist die vom LAG vertretene Ansicht, dass dem betroffenen schwerbehinderten Arbeitnehmer bei unterbliebener oder verspäteter Wiedereingliederung ein Schadensersatzanspruch in Höhe der entgangenen Vergütung zusteht. Zwar hatte das BAG bereits in der Vergangenheit festgestellt, dass der Arbeitgeber schadensersatzpflichtig sei, wenn er es schuldhaft versäume, die behinderungsgerechte Beschäftigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers nach § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 bis 5 SGB IX a. F. zu ermöglichen und der Arbeitnehmer deswegen seine Arbeitsleistung nicht erbringen könne (vgl. BAG v. 13. Juni 2006 – 9 AZR 229/05). Indes ging es bislang nicht um die Verletzung des Anspruchs auf Durchführung einer Wiedereingliederungsmaßnahme. Allenfalls in seiner Entscheidung vom 6. Dezember 2017 (5 AZR 815/16) deutete das BAG eine dahingehende Tendenz an, musste in der Sache jedoch nicht entscheiden, weil schon keine Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung des Klägers festgestellt werden konnte.
Offen bleibt dagegen, welche Indizien der Arbeitgeber beibringen muss, um Zweifel an der ärztlichen Bescheinigung und der darin enthaltenen Prognose hinsichtlich der Wiederherstellung der vollständigen Arbeitsfähigkeit zu begründen. Das LAG Berlin-Brandenburg führt dazu sinngemäß aus, aufgrund der in der Bescheinigung genannten Prognose könne hinsichtlich der Kausalität angenommen werden, dass die Prognose sich bei einem früheren Beginn auch bewahrheitet hätte. Angesichts dieser gewissermaßen zirkelschlüssigen, fast lapidaren Feststellung des LAG steht aus Arbeitgebersicht zu befürchten, dass es in der Regel unmöglich sein dürfte, die Kausalität zwischen Ablehnung der Eingliederungsmaßnahmen und Vergütungsausfall zu widerlegen. Gleiches dürfte für die Darlegung der Unzumutbarkeit der Anspruchserfüllung nach § 81 Abs. 4 Satz 3 SGB IX a. F. (§ 164 Abs. 4 Satz 3 SGB IX n. F.) gelten.

III. Auswirkungen für die Praxis

Während – insbesondere vor dem Hintergrund des BAG-Urteils vom 6. Dezember 2017 – davon auszugehen ist, dass nicht schwerbehinderte oder gleichgestellte Arbeitnehmer weiterhin keinen Anspruch auf eine stufenweise Wiedereingliederung nach dem SGB IX (und damit verbunden auch keinen Anspruch auf Schadensersatz) haben, sondern ihren Arbeitgeber lediglich im Rahmen des nach § 74 SGB V um die Durchführung einer solchen Maßnahme ersuchen können, zeichnet sich bei schwerbehinderten oder gleichgestellten Arbeitnehmern bereits jetzt eine weitere Risikoverschiebung zulasten der Arbeitgeber ab. Um das Risiko, von ihren Arbeitnehmern in Anspruch genommen zu werden, zu minimieren, werden Arbeitgeber in Zukunft vermutlich Wiedereingliederungsanträgen tendenziell noch eher zustimmen. Erweist sich der Arbeitnehmer dann als weniger oder später arbeitsfähig als in der ärztlichen Bescheinigung prognostiziert, geht dies nicht nur zu Lasten des Betriebes, der einen erneuten Ausfall kompensieren muss. Die verfrühte Wiedereingliederung stellt vor allem auch eine Gefahr für den schwerbehinderten Arbeitnehmer selbst dar.

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