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Anhörung der Schwerbehindertenvertretung vor der Kündigung: Vorsicht, Falle!

sprechblase
Anmerkung zu LAG Mecklenburg-Vorpommern vom 07.03.2023, 1 Ca 322/22
Möchte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis mit einem schwerbehinderten Menschen kündigen, so sind mehrere Punkte zu beachten. Gem. § 168 SGB IX ist vor Ausspruch der Kündigung etwa grundsätzlich die Zustimmung des Integrationsamtes einzuholen, wobei das Erfordernis nicht während der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses gilt (sog. Wartezeit, § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB IX).
Daneben bedarf es natürlich – sofern das Kündigungsschutzgesetz Anwendung findet – eines Kündigungsgrundes. Ebenfalls sind der Betriebsrat / Personalrat, die Schwerbehindertenvertretung sowie ggf. die Gleichstellungsbeauftragte zu beteiligen. Die Entscheidung des LAG Mecklenburg-Vorpommern rückt das Erfordernis der ordnungsgemäßen Anhörung der Schwerbehindertenvertretung in den Fokus, § 178 Abs. 2 S. 3 SGB IX.

I.

Was ist passiert?

Die Arbeitnehmerin mit einem Grad der Behinderung von 50 war bei einer Stadt auf Basis des TVöD-V beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis sollte noch innerhalb der Wartezeit gekündigt werden.
Daher beantragte die Arbeitgeberin bei dem Personalrat die Zustimmung zu der beabsichtigten ordentlichen Kündigung. Im Zuge der Anhörung teilte sie die Sozialdaten der Arbeitnehmerin sowie die beabsichtigte Kündigungsfrist mit. Zur Begründung der Kündigung führte sie unter anderem aus, dass die Arbeitnehmerin Schwierigkeiten bei der Koordination der Vorgänge gehabt habe. Der Schwerbehindertenvertretung übersandte die Arbeitgeberin die Personalratsanhörung mit einem Anschreiben, welches auf die Mitbestimmung gem. § 68 Abs. 1 Nr. 2 Personalvertretungsgesetz für das Land Mecklenburg-Vorpommern verwies und mit dem der Formulierung endete: „Als Anlage erhalten Sie eine Kopie des Schreibens an den Personalrat der Stadtverwaltung“.

II.

Die Entscheidung des LAG Mecklenburg-Vorpommern

Das Landesarbeitsgericht sah – wie die Vorinstanz – die Kündigung als unwirksam an. Der Arbeitgeber höre die Schwerbehindertenvertretung nur ordnungsgemäß an, wenn er sie ausreichend unterrichte und ihr genügend Gelegenheit zur Stellungnahme gebe.
Die Unterrichtung müsse die Schwerbehindertenvertretung in die Lage versetzen, auf die Willensbildung des Arbeitgebers einzuwirken. Die Unterrichtung sei inhaltlich nicht auf schwerbehindertenspezifische Kündigungsgründe beschränkt. Der Arbeitgeber müsse den Sachverhalt, den er zum Anlass für die Kündigung nehmen wolle, so umfassend beschreiben, dass sich die Schwerbehindertenvertretung ohne zusätzliche Nachforschungen ein Bild über die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe machen und beurteilen könne, ob es sinnvoll sei, Bedenken zu erheben. Neben dem Kündigungssachverhalt seien der Grad der Behinderung des Arbeitnehmers und ggf. die Gleichstellung sowie grundsätzlich die weiteren Sozialdaten (Beschäftigungsdauer, Lebensalter, Unterhaltsverpflichtungen) mitzuteilen.
Hinsichtlich der Stellungnahmefristen enthalte das SGB IX seit Einführung der Unwirksamkeitsfolge des § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX eine planwidrige Regelungslücke. Diese sei durch eine analoge Anwendung von § 102 Abs. 2 BetrVG in Verbindung mit den §§ 187 ff. BGB zu schließen. Einer ausdrücklichen Fristsetzung durch den Arbeitgeber bedürfe es nicht. Das Anhörungsverfahren sei beendet, wenn die Frist zur Stellungnahme durch die Schwerbehindertenvertretung abgelaufen sei oder eine das Verfahren abschließende Stellungnahme vorliege.
Eine Anhörung gehe über das bloße Unterrichten hinaus. Anhörung bedeute, dem Angehörten Gelegenheit zur Äußerung zu geben und diese Äußerung entgegenzunehmen sowie sich gegebenenfalls mit ihr auseinander zu setzen. Der Angehörte müsse erkennen können, dass ihm ermöglicht werde, etwas vorzubringen oder eine Stellungnahme abzugeben, die bei der Entscheidungsfindung zumindest bedacht werde.
Nach diesen Maßgaben enthalte das Schreiben der Arbeitgeberin an die Schwerbehindertenvertretung lediglich eine Information zu dem laufenden Beteiligungsverfahren bei dem Personalrat. Weder aus Wortlaut noch Sinn und Zweck lasse sich entnehmen, dass die Schwerbehindertenvertretung Gelegenheit zur Stellungnahme erhalte und ihr gegenüber ein eigenständiges Beteiligungsverfahren eingeleitet werden solle. Das Schreiben nehme lediglich Bezug auf das Personalvertretungsgesetz, nicht aber auf das SGB IX. Die Beklagte habe nicht die Zustimmung der Schwerbehindertenvertretung beantragt, sondern lediglich auf den entsprechenden Antrag gegenüber dem Personalrat verwiesen. Ob die Schwerbehindertenvertretung das Schreiben entsprechend den üblichen Gepflogenheiten als Unterrichtung angesehen habe, sei unerheblich, da es auf den objektiven Erklärungswert ankomme.

III.

Einordnung und praktische Folgen

Nach der Neufassung des SGB IX und der Einführung der Unwirksamkeitsfolge der ausgesprochenen Kündigung bei unterlassener oder unzureichender Anhörung der Schwerbehindertenvertretung hatte es zunächst zahlreiche offene Fragen gegeben.
Zwischenzeitlich hat das Bundesarbeitsgericht klargestellt, dass die Fristenregelung des § 102 Abs. 2 BetrVG analog anzuwenden ist, auch wenn im konkreten Fall ein Personalvertretungsgesetz Anwendung findet, welches andere Fristen vorsieht (BAG, Urt. v. 13.12.2018 – 2 AZR 378/18, Rdz. 22 f.). Ob diese Analogie zwingend war, darf bezweifelt werden. Aufgrund dieser Rechtsprechung besteht jedenfalls eine praktisch handhabbare und verlässliche Lösung. Umstritten war aufgrund des Wortlautes des § 178 Abs. 2 S. 1 SGB IX („unverzüglich“) weiterhin, ob die Anhörung zeitlich vor der Betriebsrats-/Personalratsanhörung zu erfolgen hat. Dies hat das Bundesarbeitsgericht verneint (BAG aaO., Rdz. 19).

Praxishinweis:

Dementsprechend erfolgt die Anhörung beider Gremien in der Praxis typischerweise zeitgleich, wobei darauf zu achten ist, dass beide Gremien separat adressiert werden. Eine Übersendung der Personalratsanhörung an die Schwerbehindertenvertretung lediglich zur Kenntnis, genügt, wie der vorliegende Fall eindrücklich zeigt, gerade nicht.
Einigkeit herrscht im Ausgangspunkt, dass für die Anhörung der Schwerbehindertenvertretung einerseits und der Anhörung des Betriebsrates/Personalrates andererseits, die gleichen Grundsätze gelten: So etwa die subjektive Determination; die Nennung bloßer Schlagworte ist nicht ausreichend. Es wird sogar (richtigerweise) ausdrücklich empfohlen, die Schwerbehindertenvertretung und den Betriebsrat/Personalrat wortwörtlich gleich zu unterrichten, da andernfalls die Gefahr besteht, dass eine der beiden Anhörungen als nicht umfassend genug angesehen wird (Kleinebrink, DB 2017, 126, 129). Insoweit war die Arbeitgeberin im Fall des LAG Mecklenburg-Vorpommern eigentlich auf dem richtigen Weg.
Der Arbeitgeber ist hingegen nicht verpflichtet, die Gremien zu einer Stellungnahme aufzufordern. Er muss eine solche Stellungnahme lediglich ermöglichen (Kleinebrink, aaO). Nachlässig und unglücklich war die Erwähnung des Personalvertretungsgesetzes im Anschreiben an die Schwerbehindertenvertretung. Letztlich hat das Landesarbeitsgericht auf diesen Umstand aber nicht entscheidet abgestellt. Die Formulierung „als Anlage erhalten Sie eine Kopie des Schreibens an den Personalrat“ stellt nach Auffassung des Landesarbeitsgerichtes keine Anhörung dar, sondern lediglich eine Information. Diese Auffassung ist formalistisch und grenzt an Haarspalterei (ebenfalls kritisch Hitzelberger-Kijima, öAT 2023, 127). In Kenntnis des Anhörungserfordernisses konnte das Schreiben objektiv lediglich als Anhörungsschreiben ausgelegt werden.

Praxishinweis:

Arbeitgebern kann also nur dringend geraten werden, den eigentlichen Inhalt der Anhörungsschreiben wortgleich zu gestalten und (ggf.) die gleichen Unterlagen beizufügen, im Anschreiben aber deutlich zu machen, dass es sich um ein eigenständiges Anhörungsverfahren handelt. Sofern eine Gleichstellungsbeauftragte anzuhören ist, gelten diese Maßgaben entsprechend.

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