Krankschreibung über WhatsApp – viel Wirbel um wenig?
1. Worum geht's?
Die Krankschreibung gemütlich aus dem Bett heraus über das Smartphone, ohne den Arzt jemals gesehen zu haben – die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) kommt wenige Minuten später als Screenshot über WhatsApp: Das ist die Idee des Hamburger Start-Ups AU-Schein GmbH.
Es erstaunt nicht, dass das Thema seit Bekanntwerden in nahezu allen Medien ein großes Echo erfährt. Zu sehr drängt sich auf, dass eine solche Seite überwiegend von denen genutzt wird, die tatsächlich nicht krank sind und sich ohne großen Aufwand mit dem gelben Schein ein paar Tage eigenmächtigen Urlaub gönnen wollen. Mit Blick auf die Homepage (https://app.au-schein.de/) des Anbieters wird dieser Verdacht zumindest nicht entkräftet. Dort heißt es u.a.: „Danke für über 3.000 AU-Scheine und 100% Akzeptanz bei Arbeitgebern & Krankenkassen!" und „Bei Erkältung erhalten Sie für 9,- € eine gültige Krankschreibung vom Tele-Arzt über WhatsApp und per Post." Der Service ist damit von vornherein nicht auf eine tatsächliche ärztliche Behandlung gerichtet, sondern soll lediglich für den Fall einer Erkältung eine schnelle AU-Bescheinigung liefern. Bald folgen sollen AU-Bescheinigungen für Magen-Darm-Grippe und Schmerzen im unteren Rücken. Ein Traum für „Blaumacher"?
2. Hintergrund und Ablauf einer Krankschreibung über die Webseite
Das Hamburger Unternehmen versucht, mit seinem Geschäftsmodell von der beschlossenen Aufweichung des Fernbehandlungsverbots auf dem 121. Deutschen Ärztetag in Erfurt (8. bis 11. Mai 2018) zu profitieren. Bisher sah § 7 Abs. 4 der Musterberufsordnung für Ärzte (MBO-Ä) folgende Regelung vor:
Ärztinnen und Ärzte dürfen individuelle ärztliche Behandlung, insbesondere auch Beratung, nicht ausschließlich über Print- und Kommunikationsmedien durchführen.
Insbesondere um das Problem des Ärztemangels im ländlichen Raum anzugehen, beschloss man eine Aufweichung dieses Grundsatzes und fasste die Neuregelung wie folgt:
Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien ist im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt […] gewahrt wird.
Bisher haben – soweit ersichtlich – lediglich die Ärztekammern Schleswig-Holstein und Bayern in § 7 Abs. 4 ihrer Berufsordnung diesen Passus weitgehend übernommen und damit eine reine Fernbehandlung erstmals ermöglicht. Alle Ärzte der AU-Schein GmbH sitzen trotz des Geschäftssitzes in Hamburg folgerichtig auch in Schleswig-Holstein.
Der Service funktioniert dabei so, dass der Nutzer auf der ersten Seite zunächst seine Erkältungssymptome angibt und einige Fragen beantwortet. Auf der nächsten Seite muss er bestätigen, dass er zu keiner Risikogruppe gehört. Im Anschluss daran sind die persönlichen Daten anzugeben und der Extraservice mit EUR 9,00 per Paypal zu bezahlen. Der Arzt diagnostiziert in der Regel – laut FAQ in 99% der Fälle (!) – eine Erkältung, stellt ohne weitere Prüfung die AU-Bescheinigung aus und sendet diese per WhatsApp sowie zusätzlich im Original per Post. Sollte der Nutzer „unglücklicherweise" die falschen Symptome angewählt haben, erscheint eine Mitteilung, dass er diesen Dienst aus Sicherheitsgründen nicht nutzen kann. Mit einem Klick zurück und der Einstellung neuer Symptome geht es dann aber problemlos weiter.
3. Rechtliche Einschätzung
Rechtlich bestehen gegen das Geschäftsmodell gleich aus mehreren Blickwinkeln Bedenken.
Der Chef der Hamburger Ärztekammer Dr. Pedram Emami hat bereits angekündigt, juristische Schritte gegen das Geschäftsmodell vornehmen zu lassen und einen Verstoß gegen die Berufsordnung zu prüfen. Aus einer in der Berufsordnung angelegten Ausnahmeregelung für den Einzelfall eine generelle Zulässigkeit von WhatsApp-Krankschreibungen zu kreieren, die offensichtlich nicht auf die Behandlung, sondern auf die Gewinnmaximierung abzielen, dürfte in der Tat schwierig zu begründen sein. Auch der GKV Spitzenverband hat erhebliche Zweifel an der Zulässigkeit. Das Hamburger Start-Up sieht das naturgemäß anders, weist seine Nutzer aber doch vorsichtshalber mit folgenden Worten auf etwaige Probleme hin:
„Ihr Arbeitgeber und Krankenkassen können grundlos misstrauisch werden und sogar abwegige Rechtsansichten vertreten zu Ihrem Nachteil, nur weil der Arzt an einem anderen Ort sitzt und die Wahrscheinlichkeit von Blaumachen bei Telemedizin höher eingeschätzt wird."
Unter arbeitsrechtlichen Gesichtspunkten stellt sich vor allem die Frage, wie ein betroffener Arbeitgeber mit einer solchen Arbeitsunfähigkeit umzugehen hat. Dass der Arbeitnehmer zunächst lediglich eine Kopie (die er über WhatsApp erhalten hat) etwa per E-Mail weiterleitet und das Original wenige Tage später per Post zusendet oder persönlich überreicht, wird der Arbeitgeber per se nicht angreifen können. Fraglich ist allerdings, ob einer solchen AU-Bescheinigung der gleiche hohe Beweiswert zukommen kann, wie dies bislang von der Rechtsprechung für „gewöhnliche" AU-Bescheinigungen angenommen wird. Danach muss der Arbeitgeber im Falle der Vorlage einer AU-Bescheinigung Tatsachen vortragen und – im Bestreitensfalle – beweisen, die ernsthaften Zweifel am Wahrheitsgehalt der AU-Bescheinigung aufkommen lassen. Dies ist in der Praxis jedoch regelmäßig ein sehr schwieriges Unterfangen.
Die Krankschreibung per WhatsApp weist demgegenüber gleich drei Besonderheiten auf, die allesamt geeignet sind, den Beweiswert im Einzelfall zu erschüttern:
Offenkundig ist zunächst die fehlende ärztliche Untersuchung. Der Arzt kann lediglich die (voreingestellten) Antwortmöglichkeiten bewerten. Diese können wahllos und beliebig häufig geändert werden. Eine Untersuchung im klassischen Sinne und die von § 4 Abs. 1 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie geforderte Feststellung des körperlichen, geistigen und seelischen Gesundheitszustands sind dem Arzt überhaupt nicht möglich. Der gesamte Ablauf ist nicht darauf gerichtet, dass sich der Arzt tatsächlich ein Bild von dem (angeblichen) Patienten macht, sondern es geht um das bloße Abzeichnen von vorgefertigten Symptombildern. Einer solchen AU-Bescheinigung kann kein erhöhter Beweiswert zukommen. Das BAG hat das schon früh für den Fall entschieden, in welchem ohne persönliche Untersuchung des Arbeitnehmers allein aufgrund einer fernmündlichen Krankmeldung durch die Ehefrau eine AU-Bescheinigung ausgestellt wurde (BAG v. 11. August 1976 – 5 AZR 422/75). Zwar war zum Zeitpunkt der Rechtsprechung die Fernbehandlung noch gänzlich untersagt, allerdings setzt auch die neue Regelung in § 7 Abs. 4 MBO-Ä voraus, dass eine ärztliche Untersuchung stattfindet. Hiervon ist schwerlich zu sprechen, wenn der Nutzer nach den FAQs der Seite sogar verbindlich angeben kann, wie lange er krankgeschrieben werden möchte. Wörtlich heißt es hierzu:
„Wie viele Tage kann ich krankgeschrieben werden? 1 bis 3 Tage. Der Arzt folgt immer Ihrem Wunsch."
Der Beweiswert einer über die Plattform „AU-Schein" erworbenen AU-Bescheinigung lässt sich aber auch mit dem Argument erschüttern, dass eine notwendige Trennung zwischen Krankheit und Arbeitsunfähigkeit nicht stattfindet und auch – mangels konkreter Anhaltspunkte – nicht zutreffend vom Anbieter bestimmt werden kann. § 3 Abs. 1 EFZG setzt voraus, dass eine Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit vorliegt. Denn nicht jede Krankheit führt zur Arbeitsunfähigkeit und insbesondere bei einer einfachen Erkältung bedarf es einer gesonderten Prüfung, ob der Arbeitnehmer wirklich arbeitsunfähig ist. Auch hierauf verzichtet das Start-Up (bewusst) und verstößt damit zugleich gegen § 2 Abs. 1 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie.
Bis vor Kurzem sahen die FAQs sogar die Möglichkeit der Rückdatierung einer AU-Bescheinigung bis zu drei Tagen vor. Dies ist nach § 5 Abs. 3 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie zwar möglich, jedoch nur ausnahmsweise und nach gewissenhafter Prüfung. Die Rückdatierung einer AU-Bescheinigung begründet nach der Rechtsprechung jedoch bereits für sich genommen Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit, insbesondere dann, wenn die rückwirkende Feststellung über zwei Tage hinaus geht (LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 30. Mai 2008 – 3 Sa 195/07). Auch die beworbene und angebotene systematische Rückdatierung von AU-Bescheinigungen lässt dementsprechend erhebliche Zweifel an dem (generellen) Beweiswert der von der Plattform ausgestellten Bescheinigungen erwachsen. Wohl auch aus diesem Grund hat man diesen „Service" nunmehr eingestellt.
4. Ergebnis und Handlungsempfehlungen
Aus arbeitsrechtlicher Sicht sollte das Hamburger Start-Up Arbeitgebern keine zu großen Kopfschmerzen bereiten. Der Beweiswert einer hierüber ausgestellten AU-Bescheinigung wird sich regelmäßig mit sehr guten Gründen erschüttern lassen. Das selbst verpasste Siegel „von Rechtsanwälten bestätigt" kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der AU-Bescheinigung alle wesentlichen Merkmale fehlen, die die hohe Beweiskraft im Kern begründen. Dass sich auch der Anbieter seiner Sache selbst nicht ganz sicher ist, zeigt die Tatsache, dass die FAQs im Hinblick auf die Rückdatierung gänzlich geändert wurden und die zuvor erteilte AU-Bescheinigung für immerhin fünf Tage nunmehr auf drei Tage beschränkt wurde.
Bis zur Klärung der arbeitsrechtlichen wie auch medizinrechtlichen Zulässigkeit durch die Gerichte obliegt es allerdings dem Arbeitgeber, bei den AU-Bescheinigungen genauer hinzusehen. Zwar lässt sich einer Bescheinigung nicht entnehmen, ob diese nach einer persönlichen Untersuchung oder lediglich aufgrund einer telemedizinischen Untersuchung ausgestellt wurde. Stutzig machen sollte den Arbeitgeber aber, wenn der ausstellende Arzt plötzlich in Schleswig-Holstein und damit weit vom Wohnort des betroffenen Arbeitnehmers entfernt sitzt.
Daneben ist anzunehmen, dass nicht allzu viele Ärzte ihren Namen für dieses – auch moralisch fragwürdige – Geschäftsmodell hergeben werden. Somit dürften diejenigen, die ohne weitere Prüfung eine AU-Bescheinigung unterzeichnen, schnell bekannt sein. Die Erstellung einer schwarzen Liste und deren umfangreiche Verbreitung (etwa durch den Arbeitgeberverband) dürfte den betroffenen Arbeitgebern erheblich weiterhelfen.
Der Arbeitgeber kann zudem die Krankenkasse des Arbeitnehmers in diesen Fällen gemäß § 275 SGB V verpflichten, eine gutachterliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) einzuholen, um Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit zu beseitigen. Zweifel bestehen nach § 275 Abs. 1a b) SGB V dann, wenn eine Arbeitsunfähigkeit von einem Arzt festgestellt worden ist, der durch die Häufigkeit der von ihm ausgestellten Bescheinigungen auffällig geworden ist. Ein besseres Beispiel als eine Erfolgsquote von 99% der AU-Bescheinigungen dürfte es wohl nicht geben.
Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert der AU-Bescheinigung zu erschüttern und stellt sich heraus, dass der Arbeitnehmer die Arbeitsunfähigkeit damit nur vorgetäuscht hat, wird aus dem „Traum vom Blaumachen" schnell ein Albtraum. Erschleicht sich der Arbeitnehmer unberechtigt die Entgeltfortzahlung, stellt dies nämlich einen vollendeten Betrug dar, der regelmäßig die verhaltensbedingte fristlose Kündigung rechtfertigt.