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Long time no see- Der richtige Umgang mit Urlaubsansprüchen Langzeiterkrankter
Die Krankenstände im privaten und öffentlichen Sektor befinden sich auf einem historischen Rekordniveau. Für viele Unternehmen bedeutet das zunächst einmal Unsicherheit – vor allem im Hinblick auf die wirtschaftlichen Folgen.
Zwar endet die Lohnfortzahlung nach sechs Wochen, was den Arbeitgeber zunächst aus der direkten wirtschaftlichen Belastung entlässt. Doch wenn sich die erst kurzzeitige Krankheit in eine Langzeiterkrankung entwickelt, entsteht ein neues Risiko. Denn auch während der Arbeitsunfähigkeit sammeln sich Urlaubsansprüche an – und das mitunter über Jahre hinweg. Wird der Wiedereinstieg nach einer Langzeiterkrankung zum Thema, können diese kumulierten Urlaubsansprüche ein erhebliches finanzielles Ausmaß haben. Hierzu haben der Europäische Gerichtshof (EuGH) und das Bundesarbeitsgericht (BAG) in den letzten Jahren dezidierte Vorgaben entwickelt, die nachfolgend dargestellt werden.
Inhalt dieses Beitrags
I.
Verfall von Urlaubsansprüchen
Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub entsteht periodisch für jedes Jahr, in dem ein Arbeitsverhältnis besteht – auch in der Phase der Langzeiterkrankung. Grundsätzlich verfällt der Urlaubsanspruch am 31. März des auf den Bezugszeitraums des Urlaubsanspruchs folgenden Jahres.
Nachdem der EuGH zwar im Jahr 2009 angenommen hatte, dass Urlaubsansprüche auch über den Übertragungszeitraum des Urlaubs hinaus nicht verfallen dürfen, wenn die Arbeitnehmenden nicht die Möglichkeit hatten diesen zu nehmen, schob der EuGH dem unbegrenzten Ansammeln bei fortdauernder krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit einen Riegel vor. Um zu vermeiden, dass sich Urlaubsansprüche während einer Langzeiterkrankung uneingeschränkt ansammeln können, billigte der EuGH im konkreten Fall einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten nach Ablauf des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist (EuGH, Urt. v. 22. November 2011 – C-214/10).
Das BAG hat die 15-Monats-Grenze in unionsrechtskonformer Auslegung des § 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG übernommen, sodass Urlaubsansprüche Langzeiterkrankter am 31. März des zweiten auf den Bezugszeitraum folgenden Kalenderjahres verfallen (BAG, Urt. v. 7. August 2012 – 9 AZR 353/10). Zu beachten ist hierbei, dass diese Verfallsfristen lediglich für den gesetzlichen Mindesturlaub gelten und nicht für darüberhinausgehend gewährten (tarif-)vertraglichen Zusatzurlaub.
Praxistipp:
Arbeitsvertragliche Verfall- bzw. Übertragungsklauseln zum Jahresurlaub Langzeiterkrankter sollten eine Differenzierung zwischen dem gesetzlichen Mindesturlaub und dem zusätzlich gewährten Jahresurlaub enthalten.
II.
Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers
Damit Urlaubsansprüche – unabhängig vom Vorliegen einer Langzeiterkrankung – verfallen können, muss der Arbeitgeber konkret und transparent seiner Mitwirkungsobliegenheit nachgekommen sein.
Dazu muss er die Arbeitnehmenden rechtzeitig in die Lage versetzen, den Urlaubsanspruch tatsächlich ausüben zu können und sie darauf hinweisen, dass der Anspruch bei Nichtinanspruchnahme mit Ablauf des Kalenderjahres verfällt. Im Zusammenhang mit Langzeiterkrankten ergeben sich insoweit Besonderheiten.
a. Unterjährige Arbeitsunfähigkeit
Wird die betroffene Person erst im Laufe des Bezugszeitraums arbeitsunfähig, verfällt der Urlaub dann nur nach Ablauf des Übertragungszeitraums, wenn der Arbeitgeber seiner Mitwirkungsobliegenheit nachgekommen ist (EuGH, Urt. v. 22. September 2022 – C-518/20, C-727/20). Der Arbeitgeber ist insoweit nicht schutzwürdig, da es sich um Urlaubsansprüche aus dem laufenden Bezugszeitraum handelt und eine Gefahr der Kumulierung durch entsprechende Hinweise vermieden hätte werden können. Das BAG hat die Rechtsprechung in richtlinienkonformer Auslegung des § 7 Abs. 1, 3 BUrlG übernommen. Die Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers ist grundsätzlich Voraussetzung für das Eingreifen des urlaubsrechtlichen Fristenregimes (Urt. v. 20. Dezember 2022 – 9 AZR 246/19).
b. Sonderfall: Arbeitsunfähigkeit sehr früh im Bezugszeitraum
Konkretisiert wird diese Rechtsprechung durch das BAG-Urteil vom 31. Januar 2023 (9 AZR 107/20). Kommt es bereits in den ersten Wochen des Bezugszeitraums dazu, dass Arbeitnehmende erkranken, ist der Verfall des Urlaubs möglich, wenn der Arbeitgeber seiner Mitwirkungsobliegenheit unverzüglich nachgekommen ist. Unverzüglich bedeutet in der Regel eine Woche (sechs Werktage) nach Jahresbeginn. Der Urlaub kann also bei Arbeitsunfähigkeit innerhalb der ersten Woche des Bezugszeitraums trotz fehlender Mitwirkung nach Ablauf des Übertragungszeitraums von 15 Monaten verfallen. Des Weiteren entsteht der Urlaubsanspruch in dieser besonderen Konstellation nur in dem Umfang, in dem er bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit tatsächlich hätte genommen werden können.
c. Mehrjährige Arbeitsunfähigkeit
Besteht die Arbeitsunfähigkeit schon bei Beginn des laufenden Urlaubsjahres und hält sie den Bezugszeitraum über an, verfällt der Urlaub nach Ablauf des fünfzehnmonatigen Übertragungszeitraums, ohne dass der Arbeitgeber seiner Mitwirkungsobliegenheit nachgekommen ist. Eine freie Entscheidung über die Verwirklichung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub ist aufgrund der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit, die auf psychischen oder physischen Beschwerden beruht und vom Willen der Arbeitnehmenden unabhängig ist, ausgeschlossen. Ein Hinweis wäre somit ohnehin nicht zielführend.
III.
Praxishinweise
Es ist insbesondere ratsam, Arbeitnehmende zu Beginn eines jeden Jahres auf ihren Urlaubsanspruch und den möglichen Verfall bei Nichtinanspruchnahme hinzuweisen. Bei zu Beginn des Bezugszeitraums langzeiterkrankten Arbeitnehmenden ist ein solcher Hinweis allerdings nicht erforderlich.
Vielmehr könnte dies die Motivation setzen, sich zu Jahresbeginn kurzfristig gesund zu melden, um den Urlaub zu nehmen und danach wieder erkranken. Es ist aber ratsam, Langzeiterkrankten unmittelbar nach ihrer Rückkehr ein Hinweisschreiben über die noch nicht verfallenen Urlaubsansprüche zukommen zu lassen, um durch die obligatorische Mitwirkung den Verfallszeitraum in Gang zu setzen. Wir empfehlen hierfür eine feste Struktur zu etablieren.
Zu beachten ist stets, dass sich die zuvor dargestellte Rechtsprechung lediglich auf den gesetzlichen Mindesturlaub bezieht. Der Verfall des (tarif)-vertraglichen Mehrurlaubs kann im Rahmen der gesetzlichen Regelungen hiervon abweichend geregelt werden. Aus diesem Grund sollten arbeitsvertragliche Verfall- und Übertragungsklauseln eine Differenzierung zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und zusätzlich gewährtem Jahresurlaub treffen.
IV.
Fazit
Die stetig weiter entwickelte Rechtsprechungslinie von EuGH und BAG stellt konkrete Anforderungen an den Umgang mit Urlaubsansprüchen von Langzeiterkrankten.
Arbeitgeber sollten zur Umsetzung dieser Anforderungen entsprechende Strukturen etablieren. Wer jetzt keine klaren Strukturen und rechtssicheren Prozesse etabliert, läuft Gefahr im Nachhinein buchstäblich die Rechnung dafür zu bekommen.
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