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Qualifizierung und Weiterbildung – das Qualifizierungschancengesetz in der betrieblichen Praxis
Der Mangel an qualifiziertem Personal und der in vielen Bereichen einsetzende Strukturwandel wird zu einem wachsenden Problem für die deutsche Wirtschaft. Zugleich zwingen steigende Preise viele Unternehmen aktuell zu Einsparungen und Kostenreduzierungen.
In diesem Spannungsverhältnis eröffnet das bereits 2019 in Kraft getretene Qualifizierungschancengesetz interessante – vielfach aber (noch) unbekannte – Förderungsmöglichkeiten. Als Antwort auf Fachkräftemangel und Strukturwandel kann so auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Personal qualifiziert werden. Politisch ist das Thema ebenfalls auf der Agenda: Mit der Nationalen Weiterbildungsstrategie wurden zahlreiche Projekte in diesem Bereich angestoßen (vgl. PM des BMAS vom 27.9.22) . Wir geben Ihnen nachfolgend einen Überblick, wie Restrukturierung und Weiterbildung zusammenhängen und zeigen konkrete Förderungsmöglichkeiten auf.
Blogserie: Restrukturierung
Pandemie, Ukrainekrieg, Energiekrise und fragile Lieferketten – die derzeitigen Herausforderungen könnten größer kaum sein. Viele Unternehmen bringt dies an ihre Grenzen – nicht wenige auch darüber hinaus. Zusätzlich sind immer strengere rechtliche Anforderungen zu beachten.
Autor dieses Beitrags
I.
Ausgangslage: Sensibilität schaffen
Im Ausgangspunkt müssen eine systematische Personalplanung, Personalentwicklung und Qualifizierung zu Themen im Betrieb werden.
In diesem Bereich ist auch der Betriebsrat einzubeziehen, der im Rahmen der Personalplanung und Qualifikation Beteiligungsrechte hat (vgl. etwa § 96 BetrVG, § 80 I Nr. 8 BetrVG). Dabei sollte die Belegschaft für Veränderungen sensibilisiert und zu Weiterbildungen motiviert werden.
II.
Rechtlicher Hintergrund: Strukturwandel und Betriebsänderung
Ein auf dem Strukturwandel beruhender Weiterbildungsbedarf ist regelmäßig nicht (nur) auf einzelne Beschäftigte bezogen, sondern betrifft ganze Branchen. Führt die Veränderung der Arbeitsanforderungen zu einem Abbau von Personal oder werden zumindest neue Fertigungsmethoden oder Betriebsstrukturen eingeführt, liegt eine Betriebsänderung vor (§ 111 S. 3 Nr. 1, 4, 5 BetrVG).
Konsequenz ist die notwendige Beteiligung des Betriebsrates und die Verpflichtung, über einen Interessenausgleich zu verhandeln und einen Sozialplan abzuschließen. Während im Interessenausgleich die konkrete Maßnahme beschrieben wird, dient der Sozialplan dem Ausgleich wirtschaftlicher Nachteile der Beschäftigten, etwa indem Abfindungszahlungen festgelegt werden. Neben dem typischen „Abfindungssozialplan“ liegt es aber nicht selten im Unternehmensinteresse, die Stammbelegschaft ganz oder teilweise zu erhalten und durch Qualifizierungsmaßnahmen an die neuen digitalisierten Arbeitsprozesse heranzuführen. Wird in einem Sozialplan zumindest auch eine solche Qualifizierung von Beschäftigten vorgesehen, spricht man in der Praxis häufig von einem „Qualifizierungssozialplan“.
III.
Der „Qualifizierungssozialplan“ als qualifizierter Interessenausgleich
Die Bezeichnung „Qualifizierungssozialplan“ ist aber bisweilen irreführend: So können Umschulungs- und Fortbildungsverpflichtungen nicht Gegenstand eines Sozialplans sein, da sie nicht der Milderung wirtschaftlicher Nachteile dienen, sondern diese (vorgelagert) vermeiden sollen.
Werden Qualifizierungsmaßnahmen indes (nur) im Interessenausgleich geregelten, so lassen sich daraus grundsätzlich keine individualrechtlichen Ansprüche der Beschäftigten herleiten. Ist ein Qualifizierungsanspruch gewollt, sollte daher eine Vereinbarung mit Mischcharakter abgeschlossen werden, die hinsichtlich der Qualifizierungsregelungen eine Betriebsvereinbarung darstellt. Die Einbindung des Betriebsrates ist zudem auch deshalb obligatorisch, weil diesem bei der Ermittlung des Weiterbildungsbedarfs und der Durchführung der konkreten Weiterbildungsmaßnahme umfassende Beteiligungsrechte zukommen (§ 96 ff BetrVG). Schließlich erhöht die Beteiligung des Betriebsrates die Akzeptanz der Maßnahme bei der Belegschaft und bietet finanzielle Vorteile, da die staatlichen Förderungen beim Abschluss einer solchen Betriebsvereinbarung steigen können (vgl. unter IV., 2).
In einem „Qualifizierungssozialplan“ werden typischerweise folgende Bereiche geregelt:
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Ermittlung und Benennung des Qualifizierungsbedarfs,
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Festlegung von Qualifizierungszielen und -wegen,
-
Konkrete Teilnahmeregelungen (zeitliche Dauer, Umfang usw.),
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Festlegung des Verhältnisses zu Abfindungsregelungen in einem begleitenden „Abfindungssozialplan“,
-
Finanzierung der Maßnahmen: Regelung zu Rückzahlungsmodalitäten (z.B. im Fall der Eigenkündigung) und Beachtung staatlicher Förderungsmöglichkeiten
Eine noch weitergehende Möglichkeit als der „Qualifizierungssozialplan“ bietet ein so genannter auf Dauer angelegter „Qualifizierungsbetrieb“. Hier werden Beschäftigte in einer neuen betrieblichen Einheit zusammengefasst, in ihr weitergebildet und im Anschluss wieder innerhalb des Unternehmens im operativen Betrieb eingesetzt. Auch die dortigen Weiterbildungsmaßnahmen können auf der Grundlage des Qualifizierungschancengesetzes gefördert werden
IV.
Die Förderung der Qualifizierungsmaßnahmen
Im Bereich des strukturbedingten Qualifizierungsbedarfes setzen die Förderungen durch das Qualifizierungschancengesetz an. Die Förderungsmöglichkeiten sind nicht nur für einzelne Beschäftigte interessant, sondern erleichtern auch die Finanzierung auf der Unternehmensseite.
1. Förderungsvoraussetzungen und Förderungsangebote
Beschäftigte können unabhängig von ihrer Qualifikation, ihrem Alter und der Betriebsgröße durch Weiterbildungsmaßnahmen im bestehenden Arbeitsverhältnis gefördert werden. Folgende Voraussetzungen müssen dazu erfüllt sein (§ 82 Abs. 1 SGB III):
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Es müssen Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt werden, die über arbeitsplatzbezogene kurzfristige Anpassungsfortbildungen hinausgehen. Nicht ausreichend ist etwa eine kurze Einweisungsschulung aufgrund geringfügiger technischer Änderungen im Betrieb.
-
Es darf sich zudem nicht um eine Weiterbildung handeln, die gesetzlich vorgeschrieben ist.
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Der Erwerb des Berufsabschlusses muss mindestens vier Jahre zurückliegen.
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Die letzte geförderte Weiterbildung des Beschäftigten muss vier Jahre zurückliegen.
-
Die Maßnahme darf nicht vom Betrieb selbst durchgeführt werden und muss mindestens einen Umfang von 120 Stunden haben.
2. Konkrete Finanzierung der Qualifizierungsmaßnahme
Die Übernahme von Weiterbildungskosten setzt grundsätzlich eine Beteiligung durch das Unternehmen voraus. Das Gesetz sieht gestaffelte Zuschüsse zu den Kosten nach der Größe des Unternehmens vor (§ 82 Abs. 2 SGB III), wobei zur Ermittlung dieser Größe alle Partnerunternehmen bzw. verbundenen Unternehmen zu berücksichtigen sind:
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in Kleinstunternehmen mit bis zu zehn Beschäftigten: 100 Prozent der Kosten,
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in kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) mit bis zu 250 Beschäftigten: bis zu 50 Prozent der Kosten,
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in größeren Betrieben ab 250 Beschäftigten: bis zu 25 Prozent der Kosten,
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bei großen Unternehmen ab 2.500 Beschäftigten: bis zu 15 Prozent der Kosten und
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bei Beschäftigten ab dem 45. Lebensjahr oder Beschäftigten mit einer Schwerbehinderung in KMU: bis zu 100 Prozent der Kosten
Die Förderung erfolgt in diesem Bereich z.B. durch Bildungsgutscheine, die die Beschäftigten sodann bei den jeweiligen Anbietern der Kurse unmittelbar einlösen können.
Praxistipp
Konkrete Weiterbildungsmöglichkeiten findet man etwa auf der von der Bundesagentur für Arbeit betriebenen Seite KURSNET. Es handelt sich um eine der größten deutschen Onlineplattform für Weiterbildungen mit über 4,5 Mio. Bildungsangeboten und einer E-Learningplattform für weiterbildungsinteressierte Personen. Ab Anfang 2024 ist zudem eine neue Online-Weiterbildungsplattform geplant.
Über die Beteiligung an den direkten Weiterbildungskosten hinaus beteiligt sich die Agentur für Arbeit auch an den Lohnfortzahlungen für Beschäftigte, die an einer geförderten beruflichen Weiterbildungsmaßnahme teilnehmen und daher freigestellt werden (Arbeitsentgeltzuschuss, § 82 Abs. 3 SGB III). Bei einem positiven Bescheid zahlt die Agentur für Arbeit den Zuschuss zum Arbeitsentgelt direkt an das Unternehmen aus.
Praxistipp
Folgende Maßnahmen erlauben eine weitere Verbesserung der Förderleistungen:
Die Förderung von Beschäftigten während des Bezugs von Kurzarbeitergeld richtet sich bis voraussichtlich zum 31. Juli 2023 nach § 106a SGB III (vgl. § 82 Abs. 9 SGB III).
-
Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag: Beim Vorliegen einer Betriebsvereinbarung zur beruflichen Weiterbildung oder eines Tarifvertrages, der betriebsbezogene Weiterbildung vorsieht, kann eine um 5 Prozentpunkte höhere Förderung erfolgen (§ 82 Abs. 4 SGB III).
-
Hoher Förderungsbedarf: Die genannten Zuschüsse zu Lehrgangskosten und Arbeitsentgelt werden unabhängig von der Betriebsgröße um jeweils 10 Prozentpunkte erhöht, wenn mindestens 20 % der Beschäftigten im einzelnen Betrieb einer Weiterbildung benötigen; bei KMU sind es sogar nur 10 % (§ 82 Abs. 5 SGB III). Unternehmen haben diese Zahl glaubhaft zu machen.
Die Förderung von Beschäftigten während des Bezugs von Kurzarbeitergeld richtet sich bis voraussichtlich zum 31. Juli 2023 nach § 106a SGB III (vgl. § 82 Abs. 9 SGB III).
V.
Weiterbildung während der Kurzarbeit
Besondere Anreize bestehen auch für den Fall der Kombination von Kurzarbeit und Weiterbildungsangeboten bis zum bis 31. Juli 2023.
Neben dem Kurzarbeitergeld kann der Beschäftigte eine Weiterbildungen absolvieren, die durch eine pauschale Lehrgangskostenerstattung abhängig von der Betriebsgröße gefördert werden (§ 106a Abs. 2 SGB III). Ein Arbeitsentgeltzuschuss wird indes nicht gezahlt, da der Arbeitsausfall vorrangig nicht weiterbildungsbedingt ist, sondern auf wirtschaftlichen Gründen beruht.
Praxistipp
Weiterhin besteht ein finanzieller Vorteil für die Beiträge zur Sozialversicherung: Bis 31. Juli 2023 wird für die Beschäftigten, die in Kurzarbeit sind und sich gleichzeitig qualifizieren, die Hälfte der Sozialversicherungsbeiträge erstattet (§ 106a Abs. 1 SGB III), wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
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Bezug von Kurzarbeitergeld vor dem 31. Juli 2023,
-
die Weiterbildungsmaßnahme dauert mehr als 120 Stunden und
-
es handelt sich um eine zugelassene Qualifizierungsmaßnahme
VI.
Fazit
Eine Prüfung der Förderungsmöglichkeiten ist für Unternehmen durchaus lohnenswert.
Geeignete Qualifizierungsmaßnahmen für Beschäftigte können dabei ergänzend zu etwaigen Maßnahmen des Personalabbaus oder der Kurzarbeit angeboten werden und zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens beitragen.
Über den Autor
Dr. Thomas Köllmann berät und vertritt bei der Sozietät Küttner seit 2018 Unternehmen, Führungskräfte und Organmitglieder in allen Bereichen des Individual- und Kollektivarbeitsrechts sowie des Dienstvertragsrechts. Zu seinen Tätigkeitsschwerpunkten zählen die Vertragsgestaltung, betriebsverfassungsrechtliche Fragestellungen, das Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst sowie die Beratung im Bereich des Beschäftigtendatenschutzes und Themen rund um die Arbeitswelt 4.0. Er promovierte berufsbegleitend zu betriebsverfassungsrechtlichen Fragestellungen unter besonderer Berücksichtigung der Datenschutzgrundverordnung. Dr. Thomas Köllmann veröffentlicht und doziert regelmäßig zu arbeitsrechtlichen Themen.