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Gemeinsamer Bundesausschuss ebnet Weg für AU-Bescheinigung per Videosprechstunde – mit Einschränkungen

videosprechstunde

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) strebt nach seiner Pressemitteilung vom 16. Juli 2020 die Änderung der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-Richtlinie) dahingehend an, dass künftig eine Krankschreibung per Videosprechstunde grundsätzlich möglich ist. Damit passt der G-BA die Regelung an die geänderte Muster-Berufsordnung der Ärzte an: Der Deutsche Ärztetag hatte im Jahr 2017 das Verbot der ausschließlichen Fernbehandlung aufgehoben, um insbesondere die ärztliche Behandlung außerhalb von Ballungsgebieten sicherzustellen. Im Anschluss hieran haben einige Start-Ups die Öffnung genutzt, um auf unterschiedliche Art und Weise Online-Krankschreibungen bequem von Zuhause aus anzubieten. Dies hat eine Reihe von rechtlichen Fragen aufgeworfen, die auch immer wieder Thema unseres Blogs waren (vgl. Krankschreibung über Whatsapp und LG Hamburg zur Wettbewerbswidrigkeit). Die Änderung der AU-Richtlinie schafft hier in einigen Punkten Klarheit.

Bisheriger Inhalt der AU-Richtlinie: Körperliche Untersuchung als zwingende Voraussetzung

In der AU-Richtlinie des G-BA sind die Regeln für die Feststellung und Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit von Versicherten durch Vertragsärztinnen und Vertragsärzten festgelegt. Danach gilt, dass die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und ihrer voraussichtlichen Dauer sowie die Ausstellung der Bescheinigung nur aufgrund einer ärztlichen Untersuchung erfolgen darf (vgl. § 4 AU-Richtlinie). Vor dem Hintergrund der COVID-19-Ausbreitung fasste der G-BA im März 2020 einen Beschluss zur temporären Anpassung der AU-Richtlinie. Danach konnte die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit für Versicherte mit nur leichten Symptomen in Bezug auf Erkrankungen der oberen Atemwege und ohne Vorliegen eines begründeten Infektionsverdachts auf COVID-19 auch aufgrund telefonischer Sprechstunde erfolgen. Diese befristete Sonderregelung zur telefonischen Krankschreibung galt bis zum 31. Mai 2020. Seit dem 1. Juni besteht wieder die Regelung, dass für die ärztliche Beurteilung, ob eine Arbeitsunfähigkeit vorliegt, eine körperliche Untersuchung notwendig ist (vom 23. Juni bis zum 14. Juli mit einer Ausnahme für die Landkreise Gütersloh und Warendorf).

Ebendieser Grundsatz der körperlichen Untersuchung soll durch den Beschluss des G-BA nun aber generell aufgeweicht werden. Der genaue Wortlaut der geänderten AU-Richtlinie ist in der genannten Pressemitteilung leider nicht veröffentlicht. Der Beschluss wird nun dem Bundesministerium für Gesundheit vorgelegt und tritt nach Nichtbeanstandung und Veröffentlichung im Bundesanzeiger in Kraft.

In welchen Fällen ist die Krankschreibung per Videosprechstunde zugelassen?

Die Möglichkeit zur Ausstellung einer AU-Bescheinigung per Videosprechstunde knüpft der G-BA an diverse Voraussetzungen und Einschränkungen. So ergibt sich aus der Pressemitteilung, dass die oder der Versicherte der Arztpraxis bekannt sein und dass die Erkrankung eine Untersuchung per Videosprechstunde zulassen muss. Zudem ist die erstmalige Feststellung der Arbeitsunfähigkeit auf einen Zeitraum von sieben Kalendertagen begrenzt. Daran kann sich keine Folgebescheinigung auf Grundlage einer erneuten Videosprechstunde anschließen. Die Ausstellung einer Folgebescheinigung per Videochat ist nur zulässig, wenn die vorherige Krankschreibung auf einer unmittelbaren persönlichen Untersuchung beruhte. In der Pressemitteilung wird außerdem explizit darauf hingewiesen, dass die neue Regelung den Versicherten keinen Anspruch dahingehend vermittelt, dass ihnen in dem virtuellen Gespräch eine AU-Bescheinigung ausgestellt wird.

Die Krankschreibung per Videosprechstunde bleibt in folgenden Fällen ausgeschlossen:

  • bei Versicherten, die in der betreffenden Arztpraxis bislang noch nie persönlich in Erscheinung getreten sind,
  • bei der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit ausschließlich auf Basis eines Online-Fragebogens, einer Chat-Befragung oder eines Telefonats.

In der Pressemitteilung findet sich folgendes Zitat von Dr. Monika Lelgemann, unparteiisches Mitglied beim G-BA und Vorsitzende des Unterausschusses Veranlasste Leistungen, das den Ausnahmecharakter der neuen Regelung verdeutlicht: „Entscheidend ist, dass die Patientin oder der Patient in der Praxis bekannt ist. Als Standard für die Feststellung von Arbeitsunfähigkeit gilt weiterhin die unmittelbare persönliche Untersuchung durch eine Ärztin oder einen Arzt. Im Einzelfall soll aber die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit über eine Videosprechstunde möglich sein, ganz unabhängig von Pandemiegeschehnissen".

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die Mitglied des G-BA ist, äußerte sich kritisch zu dem neuen Beschluss. Sie vertritt die Ansicht, dass für eine AU-Bescheinigung der erste Kontakt zum Patienten in der Praxis erfolgen und eine Krankschreibung per Videosprechstunde nur im Falle der Ausstellung einer Folgebescheinigung zulässig sein solle (Praxisnachricht vom 16. Juli 2020).

Konsequenzen für die Anbieter von virtuellen Sprechstunden?

Ein großes Fragezeichen setzt die Neuregelung aber hinter die Zulässigkeit des Geschäftsmodells von Online-Anbietern. Neben dem sehr zweifelhaften und gerichtlich für unwirksam befundenen Geschäftsmodell von „AU-Schein GmbH" (vgl. LG Hamburg, Urteil vom 3. September 2019 – Az. 406 HKO 56/19), hatten sich gerade in der Corona-Krise eine Menge weiterer Anbieter am Markt etabliert, die den ärztlichen Kontakt und die tatsächliche Beratung per Videotelefonie in den Mittelpunkt des Konzepts gestellt hatten. Je nach genauer Ausgestaltung des Geschäftsmodells kann sich die Änderung der AU-Richtlinie für einige Telemedizinportale als problematisch darstellen. Während manche Modelle ausschließlich auf bestehende Arzt-Patienten-Beziehungen ausgelegt sind, vermitteln andere Versicherte auch an diesen ihnen unbekannte Ärztinnen und Ärzte. Letzteres ist gegebenenfalls mit der neuen Regelung der AU-Richtlinie nicht vereinbar.

Vorerst bleibt jedoch abzuwarten, wie der genaue Wortlaut der Richtlinie ausgestaltet sein wird. Erst dann lässt sich abschließend klären, ob seitens der Anbieter auf dem Telemedizinmarkt Handlungsbedarf besteht. Zu hoffen ist, dass damit auch mehr Sicherheit zu weiteren noch ausstehenden Fragen, etwa den technischen Voraussetzungen einer Videosprechstunde oder der Frage, welche Krankheitsbilder nach dem Verständnis der G-BA überhaupt der Videosprechstunde zugänglich sind, einhergeht. Keine finale Klärung wird es allerdings zu der aus arbeitsrechtlicher Sicht hochspannenden Frage des Beweiswerts einer über die virtuelle Sprechstunde erlangte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geben. Hier wird man im Ergebnis erste Entscheidungen der Arbeitsgerichte abwarten müssen, wobei die medizinrechtliche Zulässigkeit in einem ersten Schritt durchaus für den Beweiswert streiten könnte.

Ein herzliches Dankeschön gilt unserer Referendarin Frau Martha Schreieck für die großartige Unterstützung in der Recherche zu diesem Beitrag!

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