Das Ende der Online-Krankschreibung? LG Hamburg stellt Wettbewerbswidrigkeit fest
I. Worum geht's?
Mit nur wenigen Klicks die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) von zu Hause aus per Smartphone bestellen, ohne jemals einen Arzt gesehen zu haben: das ist die Idee des Hamburger Start-Ups AU-Schein GmbH, die nach wie vor für viel Furore und Medienaufmerksamkeit sorgt. Zunächst gestartet allein mit der Möglichkeit der Krankschreibung wegen einer Erkältung, bot man zuletzt eine breite Palette an Symptomen von Blasenentzündung bis Rückenschmerzen im digitalen Bestellprozess an. Arbeitsrechtlich bestehen erhebliche Zweifel an dem Beweiswert einer so erlangten AU-Bescheinigung (dazu unser Blogbeitrag von Juni 2019), sodass Arbeitnehmern dringend von der Inanspruchnahme der Plattform abzuraten ist.
Vermehrt in den Fokus gerückt sind allerdings auch wettbewerbsrechtliche Bedenken, die u.a. die Wettbewerbszentrale Ende 2019 zur Einleitung eines Musterprozesses gegen „AU-Schein" vor dem Landgericht Hamburg veranlasst haben (siehe hierzu den Blogbeitrag von November 2019). Weitgehend an der Öffentlichkeit vorbei ging aber, dass zuvor bereits die Ärztekammern Hamburg und Schleswig-Holstein nach Gründung eines klagebefugten Vereins eine Klage gegen „AU-Schein" –ebenfalls vor dem Landgericht Hamburg – eingereicht hatten. In dieser Sache gibt es nun eine erste klare Entscheidung der 6. Kammer für Handelssachen (Urteil vom 3. September 2019 – Az. 406 HKO 56/19) gegen die Zulässigkeit des Geschäftsmodells von „AU-Schein".
II. Die Entscheidung des Landgerichts Hamburg
Das Landgericht Hamburg sieht in dem beworbenen Geschäftsmodell von „AU-Schein" ein unlauteres Vorgehen nach §§ 3, 3a UWG und hat die Werbung mit folgendem (und vergleichbarem) Inhalt untersagt:
1. Bei Erkältung erhalten Sie für 9,00 EUR eine gültige Krankschreibung vom Tele-Arzt über WhatsApp und per Post.
2. Sie sind arbeitsunfähig wegen Erkältung und müssten daher zum Arzt? Hier erhalten Sie Ihre AU-Bescheinigung einfach online per Handy nach Hause! Wenn Sie werktags (Mo-Fr) vor 10:00 Uhr bestellen, versenden wir Ihre AU bis 15:00 Uhr per WhatsApp und per Post. Anderenfalls am nächsten Werktag (Mo-Fr) bis 15:00 Uhr. Beginn der AU ist immer das Bestelldatum.
3. Und so geht's: Symptome schicken, Risiken ausschließen, Daten eingeben, einfach bezahlen, fertig.
4. Das Besondere an einer Arzt-Behandlung per Telemedizin ist grundsätzlich, dass der Arzt keinen persönlichen Kontakt zu Ihnen hat. Daher kann er Sie insbesondere für eine Diagnose nicht körperlich untersuchen und ist insbesondere auf Anamnese angewiesen, d. h. Ihre Antworten auf seine Fragen, insbesondere zu vorliegenden Symptomen.
5. Wir haben uns auf die Diagnose von Erkältungen konzentriert, da sie ungefährlich, gut erforscht und besonders gut per Anamnese zu diagnostizieren sind.
[…]
Die beworbene Ausstellung von AU-Bescheinigungen im Wege der Ferndiagnose in der beschriebenen Art und Weise verstoße gegen die ärztliche Sorgfalt, insbesondere § 25 der Berufsordnung für Ärzte, und sei somit in Verbindung mit § 3a UWG unlauter. Die berufsrechtlichen Regelungen erforderten grundsätzlich einen unmittelbaren Kontakt zwischen Arzt und Patienten. Ohne diesen persönlichen Kontakt könne der Arzt nicht mit der gebotenen Sorgfalt feststellen, ob der Patient tatsächlich an der von ihm vermuteten oder behaupteten Erkrankung leide. Gegen eine in der gebotenen Sorgfalt und nach bestem Wissen ausgeführten Untersuchung spreche deutlich, dass die AU-Bescheinigungen „regelhaft ohne persönlichen Kontakt" erteilt werden.
Ferner liege ein Verstoß gegen § 3 Abs. 2 UWG (Verbot unlauterer geschäftlicher Handlungen) vor, weil „AU-Schein" ihrerseits gegen die unternehmerische Sorgfalt verstoße, in dem sie die Erteilung von Krankschreibungen in einer der ärztlichen Sorgfalt widersprechenden Art und Weise organisiert und bewirbt.
III. Praxisfolgen
Mit dem Urteil der 6. Kammer für Handelssachen gibt es nun eine erste begrüßenswerte gerichtliche Entscheidung in der Sache. Das Landgericht Hamburg hat deutlich gemacht, dass die Aufweichung des Fernbehandlungsverbots nicht von sämtlichen ärztlichen Sorgfaltspflichten entbindet. Der persönliche Kontakt zwischen Arzt und Patient bleibt der Regelfall. Hiervon kann allenfalls in begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden. Die automatisierte Krankschreibung durch wenige Mausklicks ist aber mit der Berufsordnung der Ärzte und damit auch mit wettbewerbsrechtlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren. Soweit ersichtlich, wurde gegen die Entscheidung keine Berufung eingelegt.
Bemerkenswert ist zudem, dass das Landgericht Hamburg trotz Vorbringens der Kläger seine Entscheidung nicht auf einen (naheliegenden) Verstoß gegen § 9 HWG gestützt und damit die tragenden Entscheidungsgründe nicht von einer geplanten Neuregelung der Vorschrift abhängig gemacht hat.
Die weitere Entscheidung aufgrund der Klage der Wettbewerbszentrale bei derselben Kammer (Az. 406 HKO 165/19) dürfte damit vorgezeichnet sein. Aus arbeitsrechtlicher Sicht ist hier zusätzlich interessant, ob die von der Wettbewerbszentrale angeführte Argumentation zum fehlenden Beweiswert einer AU-Bescheinigung Berücksichtigung in den Urteilsgründen finden wird.
Im Ergebnis dürfte die Online-Krankschreibung in der Form, wie sie „AU-Schein" bisher praktiziert hat, am Ende sein. Dies ist vor dem Hintergrund der offenkundigen Missbrauchsanfälligkeit nur zu begrüßen.
Am Markt positionieren sich allerdings auch erste Wettbewerber, die primär auf den telemedizinischen Kontakt zwischen Arzt und Patienten (etwa via Videotelefonie) setzen und damit einen deutlich anderen Weg einschlagen. Die ärztliche Beratung soll klar im Vordergrund stehen, welches ad hoc für eine Zulässigkeit sprechen könnte. Hier wird man allerdings die konkrete Ausgestaltung abwarten müssen. Über die weitere Entwicklung werden wir Sie selbstverständlich informieren.