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Online-Krankschreibungen und digital erlangte Atteste - viele Angebote, wenig Klarheit

onlinekrankschreibung
Die Digitalisierung des Gesundheitswesens schreitet mit großen Schritten voran. Die letzten zwei Jahre haben auch in diesem Bereich viele sinnvolle Neuerungen hervorgebracht. Aus Unternehmenssicht von Anfang an kritisch beäugt wurden allerdings kommerzielle Angebote, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU-Bescheinigungen) per Mausklick und ohne jedweden Arztkontakt gegen Zahlung eines Entgelts online angeboten haben.
Der Beweiswert solcher AU-Bescheinigungen war von Anfang an höchst zweifelhaft. Zwischenzeitlich haben sich die Arbeitsgerichte hierzu erfreulich klar positioniert und den fehlenden Beweiswert in mehreren Entscheidungen klargestellt. Die Geschäftsideen sind aber längst weiter fortgeschritten: Von einer digitalen Bestätigung über den vermeintlich ordnungsgemäß vorgenommenen Coronatest bis hin zu einem Online-Attest über die vermeintliche „Impfunfähigkeit“ finden sich immer mehr rechtlich höchst zweifelhafte Angebote. Daneben stehen nachvollziehbare und insbesondere in der Pandemie notwendige Anpassungen, etwa zur telefonischen AU-Bescheinigung oder die vermehrte Nutzung von Video-Sprechstunden. Nachstehend bieten wir Ihnen einen aktuellen Überblick über die zahlreichen denkbaren Konstellationen, die jeweilige arbeitsrechtliche Einordnung und zeigen zudem auf, worauf Personalabteilungen unbedingt achten sollte.

I.

AU-Bescheinigungen auch ohne Arztbesuch vor Ort sind möglich

Schon Mitte 2020 ebnete der sog. Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) durch Anpassung der Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie (AU-Richtlinie) den Weg, Untersuchungen erstmals ohne ärztlichen Kontakt vor Ort zu ermöglichen und zugleich die Arbeitsunfähigkeit feststellen zu lassen. Während zunächst Voraussetzung war, dass die betreffende Person der Arztpraxis wegen früherer Behandlung bereits bekannt war (auch um Missbrauchsmöglichkeiten zu verhindern), sieht die jüngste Anpassung in § 4 Abs. 5 der AU-Richtlinie solche Einschränkungen nicht mehr vor.

Seit dem 19. Januar 2022 gilt nunmehr:

Die Krankschreibung unbekannter Patientinnen und Patienten ist grundsätzlich möglich, allerdings „soll“ sie über einen Zeitraum von maximal drei (anstelle der bisherigen sieben) Tagen nicht hinausgehen.
Sind Versicherte der Vertragsärztin oder dem Vertragsarzt aufgrund früherer Behandlung hingegen persönlich bekannt, kann eine erstmalige Feststellung der Arbeitsunfähigkeit im Wege einer Videosprechstunde für einen Zeitraum von bis zu sieben Kalendertagen erfolgen.
Voraussetzung für die Krankschreibung per Videosprechstunde bleibt selbstverständlich, dass das jeweilige Krankheitsbild eine Untersuchung per Videosprechstunde überhaupt zulässt. Zudem besteht kein Anspruch auf eine AU-Bescheinigung im Wege der Videosprechstunde und Ärztinnen und Ärzte sollen darüber aufklären, dass ohnehin nur eine eingeschränkte Befunderhebung zum Zwecke der Feststellung der AU-Bescheinigung besteht.
Danach bleibt eine Krankschreibung per Videosprechstunde für Erkrankungen wie bspw. einer leichten Erkältung oder einer Magendarmgrippe jedenfalls nach der AU-Richtlinie auch dann möglich, wenn sich die Patientin oder der Patient und die Ärztin oder der Arzt noch nicht kennen.

II.

Aber: Ganz ohne Arztkontakt geht es nicht

Geklärt ist gleichwohl, dass die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit allein durch die Nutzung einer Website oder App (durch das Anwählen vorgefertigter Antworten) ohne direkten Kontakt per (Mobil-)Telefon oder Video zwischen Ärztin oder Arzt und Patientin oder Patient, nicht zulässig ist. Eine so erlangte AU-Bescheinigung ist mit der AU-Richtlinie nicht zu vereinbaren; ihr kommt zudem kein Beweiswert zu und die Anbieter solcher Geschäftsmodelle handeln gleichzeitig wettbewerbswidrig.

1. Die Online-AU-Bescheinigung ohne Arztkontakt hat keinen Beweiswert

Die Rechtsprechung hat über Jahrzehnte der ordnungsgemäß erlangten AU-Bescheinigung einen sehr hohen Beweiswert eingeräumt, der von Seiten der Unternehmen kaum zu erschüttern war. Dies beruht auf der Überzeugung, dass der Arzt oder die Ärztin aufgrund des (langjährigen) persönlichen Kontakts zur Patientin bzw. zum Patienten die Auswirkungen der Krankheit auf die Arbeitsfähigkeit am besten einschätzen kann und diese Bewertung rechtlicher Überprüfung nur im Einzelfall zugänglich sein soll.
Ohne persönlichen Kontakt ist dieser Beweiswert aber erschüttert. Das haben zuletzt gleich mehrere Arbeitsgerichte für diejenigen Fälle bestätigt haben, in denen überhaupt kein Kontakt zum Arzt bestand. Intensiver mit der Frage beschäftigt hat sich etwa das ArbG Berlin. Einer Online-AU-Bescheinigung, die erteilt wird, obwohl die ausstellende Ärztin den Patienten weder persönlich untersucht hat noch ein persönliches oder telefonisches Gespräch stattfand, kann kein Beweiswert zukommen (ArbG Berlin, Urt. v. 1.4.2021 – 42 Ca 16289/20). Das ArbG Berlin betont mit Blick auf die wettbewerbsrechtlichen Entscheidungen, dass nicht einmal in einer Ausnahmesituation wie der Covid19-Pandemie eine AU-Bescheinigung „mit einem geringeren persönlichen Kontakt als einem Telefonat zulässig sein soll.“

HR-Praxistipp:

Unternehmen sollten durch Rundmail / Mitteilung im Intranet o.ä. darauf hinweisen, dass eine über die immer weiter auf dem Vormarsch befindlichen Angebote (etwa au-schein.de u.a.) erlangte AU-Bescheinigung entgegen der (rechtswidrigen) Werbung auf der jeweiligen Seite keine Entgeltfortzahlungspflicht auslöst und ggf. zu ernsthaften Konsequenzen im Arbeitsverhältnis führen kann. Erschleichen sich Beschäftigte unberechtigt die Entgeltfortzahlung, stellt dies einen vollendeten Betrug dar, der regelmäßig eine verhaltensbedingte fristlose Kündigung rechtfertigt.

2. Die Werbung für solche Geschäftsmodelle ist wettbewerbswidrig

Die Werbung für eine Online-AU-Bescheinigung ohne Arztkontakt ist zudem wettbewerbswidrig. Dies wurde sowohl vom LG Hamburg als auch in der nachfolgenden Instanz vom OLG Hamburg festgestellt (LG Hamburg, Urt. v. 3.9.2019 – 406 HKO 56/19, OLG Hamburg, Urt. v. 5.11.2020 – 5 U 175/19). Es sei mit der ärztlichen Sorgfalt nicht vereinbar, wenn die Ärztin oder der Arzt auf den persönlichen Kontakt mit Patienten verzichte, bevor sie oder er eine AU-Bescheinigung ausstelle.

Eine derartige Werbung verstoße gegen § 9 HWG und stelle damit ein Wettbewerbsverstoß gemäß § 3a UWG dar. § 9 HWG verbietet Werbung für Fernbehandlungen. Allerdings enthält der neu eingeführte Satz 2 eine Ausnahme vom Werbeverbot für den Fall, dass für die beworbene Behandlung nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit der Patientin oder dem Patienten nicht erforderlich ist (zu den Einzelheiten siehe unsere Blogs). Diese fachlichen Standards werden aber nicht eingehalten, wenn gänzlich auf den ärztlichen Kontakt verzichtet wird.


III.

Was gilt bei der AU-Bescheinigung per Videosprechstunde?

Weniger eindeutig stellt sich die Rechtslage bei einer AU-Bescheinigung dar, die im Rahmen einer Videosprechstunde erlangt wurde. Zahlreiche Anbieter drängen auf den Markt, die mit speziell zugeschnittenen Angeboten Versorgungsengpässe auf dem Land oder auch außerhalb der üblichen Öffnungszeiten entgegenwirken wollen.
Ein Gespräch per Video stellt zudem einen persönlichen Kontakt zwischen Versicherten und Arzt oder Ärztin her, der bei den oben genannten Geschäftsmodellen fehlt. Die klassische physische Untersuchung ist gleichwohl nicht gewährleistet. Hinsichtlich der Frage des Beweiswertes wird es mangels einschlägiger Rechtsprechung u.a. darauf ankommen, inwieweit die jeweiligen Symptome über Video zuverlässig zu beurteilen sind. Auch die Rechtsprechung zu dem stets hohen Beweiswerts einer AU-Bescheinigung bedarf aus unserer Sicht der Anpassung. Indizien, die gegen die tatsächliche Arbeitsunfähigkeit sprechen, sollten in der Regel zur Erschütterung des Beweiswerts führen. Ohne klare Positionierung der Rechtsprechung besteht für Unternehmen aber leider eine hohe Rechtsunsicherheit.

IV.

Sonderregel im Zusammenhang mit Covid-19: Die AU-Bescheinigung per Telefon

Mehrfach verlängert und aktuell befristet bis 31.3.2022 können Patientinnen und Patienten, die an leichten Atemwegserkrankungen leiden, telefonisch bis zu sieben Kalendertage krankgeschrieben werden. Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte müssen sich dabei persönlich vom Zustand der Erkrankten durch eine eingehende telefonische Befragung überzeugen.
Eine einmalige Verlängerung der Krankschreibung kann telefonisch für weitere sieben Kalendertage ausgestellt werden. Möglich macht auch dies eine Anpassung in der AU-Richtlinie durch den GBA. Der Ausnahmecharakter der Vorschrift und insbesondere ihre Befristung zeigen, dass unter normalen Umständen aber gerade keine telefonische ärztliche Untersuchung zulässig ist.
Für die Bewertung des Beweiswerts einer so erlangten AU-Bescheinigung wird sich, ähnlich wie im Rahmen der Videosprechstunde, keine allgemeingültige Antwort geben lassen können. Sämtlichen derart erlangten AU-Bescheinigung den Beweiswert abzuerkennen, dürfte in Widerspruch zu der im Ergebnis durchaus sinnvollen Spezialregelungen in der Pandemie stehen. Entscheidend dürfte auch hier eine Einzelfallbetrachtung sein, obgleich diese Fälle von der Rechtsprechung noch nicht entschieden worden sind. Soweit plausible Indizien gegen das Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit sprechen, dürfte regelmäßig der Beweiswert erschüttert sein. Einen gleich hohen Beweiswert wie bei der auf üblichem Weg erlangten AU-Bescheinigung wird man jedenfalls nicht anerkennen können.

V.

Digitale Zertifikate und Atteste - was gilt hier?

Nachdem die sog. 3G-Regelungen am Arbeitsplatz (§ 28b IfSG) eingeführt wurden, kamen erste Anbieter auf die Idee, den für nicht vollständig geimpfte Beschäftigte obligatorischen Testnachweis auch online anzubieten. Überwacht und zertifiziert wurde dabei der selbst vorgenommene Antigen-Test sowie das jeweilige Ergebnis, wobei teilweise eine Zusicherung der ordnungsgemäßen Testdurchführung durch den Nutzer per Anklicken vorgefertigter Auswahlpunkte ausreichend war.

Für Unternehmen ist allerdings höchste Vorsicht geboten. Für die Gültigkeit eines Testnachweises iSd § 28b IfSG ist gerade erforderlich, dass der Test von einem Leistungserbringer vor Ort vorgenommen oder überwacht wurde. Auch unter Berücksichtigung der weiteren Gesetzgebungsmaterialen steht mit hoher Wahrscheinlichkeit fest, dass ein Testzertifikat durch einen Selbsttest und die Beantwortung eines Onlinefragebogens oder auch der „Überwachung“ per Video die Voraussetzungen für die Gültigkeit des Tests nicht erfüllt. Daher hielt auch das LG Hamburg die Werbung für ein solches Onlineangebot für wettbewerbswidrig (LG Hamburg, Beschluss v. 7.12.2021 – 406 HKO 129/21).

Info:

Sofern für Unternehmen erkennbar ist, dass ein Zertifikat online erworben worden ist, etwa weil es von einem der bekannten Anbieter ausgestellt wurde oder Wohnort und Ausstellungsort gravierend auseinanderfallen, sollte der Testnachweis umgehend zurückgewiesen werden. Betroffene Beschäftigte müssen dann kurzfristig einen ordnungsgemäßen Testnachweis beibringen. Die fehlende Einhaltung der 3G-Regelungen sowie ein entsprechendes Bußgeldrisiko trägt anderenfalls das Unternehmen.

VI.

Noch abstruser: Der Online-Attest über die vermeintlich fehlende Impffähigkeit

Das gilt auch für ein kürzlich gestartetes Angebot, welches eine ganz spezielle Zielgruppe zu bedienen scheint. Per Mausklick soll es nun auch ein Attest über die vermeintlich fehlende Impffähigkeit geben.

Die „Anamnese“ auf der Website des Anbieters besteht aus gerade einmal einer Frage: „Kannst du ausschließen, dass du gegen einen oder mehrere dieser Stoffe (Inhaltsstoffe der Impfung) allergisch bist?“ Beantwortet man diese Frage entweder mit „Nein, das kann ich nicht ausschließen.“ oder „Ich bin mir nicht sicher, ob ich auf einen der genannten Stoffe allergisch reagiere.“, wird im Anschluss eine vorläufige Impfunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt. Auch hier fehlt es gänzlich an einem persönlichen Kontakt mit einem Arzt oder Ärztin. Zulässigkeit und Beweiswert richten sich daher nach den obigen Grundsätzen.

Info:

Darüber hinaus könnte sich der Aussteller einer solchen Bescheinigung gemäß § 278 StGB wegen des Ausstellens unrichtiger Gesundheitszeugnisse strafbar machen. In dem oben beschriebenen Fall hat die Staatsanwaltschaft daher bereits ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.


VII.

Fazit und Handlungsempfehlungen

Angesichts der Vielzahl an Konstellationen und der fortwährenden Veränderung des rechtlichen Rahmens steigen die Anforderungen an Personalabteilungen hinsichtlich AU-Bescheinigungen, digitalen Zertifikaten und Attesten weiter.
Mit hoher Sicherheit lässt sich zudem sagen, dass sämtliche Angebote, die sich einer ärztlichen Legitimation rühmen, aber vollkommen ohne persönlichen Kontakt auskommen, mit standesrechtlichen Vorgaben nicht zu vereinbaren sind, arbeitsrechtlich keinen Beweiswert besitzen und schließlich regelmäßig wettbewerbswidrig sein dürften.
Gleichzeitig steht auch fest, dass der Arztbesuch per Video Call in Zukunft bleiben wird und die Voraussetzungen hierzu erst kürzlich vom GBA gelockert wurden. Eine Krankschreibung auf diesem Wege ist weniger missbrauchsanfällig als eine Krankschreibung per App, da sie dem persönlichen Kontakt deutlich näherkommt und die Hemmschwelle für Beschäftigte „krankzufeiern“ erhöht. Ob und inwieweit solchen AU-Bescheinigung aber der gleiche hohe Beweiswert zukommen wird, bleibt abzuwarten.
Bis zur finalen Klärung durch die Gerichte obliegt es leider den Unternehmen, bei den AU-Bescheinigungen genauer hinzusehen. Zwar lässt sich einer Bescheinigung nicht entnehmen, ob diese nach einer persönlichen Untersuchung oder lediglich aufgrund einer telemedizinischen Untersuchung ausgestellt wurde. Stutzig machen sollte Personalabteilungen aber, wenn der ausstellende Arzt oder die Ärztin viele Kilometer weit vom Wohnort der Beschäftigten entfernt sitzt, es sich um offenkundig eingescannte Unterschriften/Stempel handelt oder auf der AU-Bescheinigung „Privatarzt“ vermerkt ist.
Daneben ist anzunehmen, dass nicht allzu viele Ärzte und Ärztinnen ihren Namen für dieses – auch moralisch fragwürdige – Geschäftsmodell hergeben werden. Somit dürften diejenigen, die ohne weitere Prüfung eine AU-Bescheinigung unterzeichnen, bald bekannt sein. Schon jetzt kursieren schwarzen Liste mit konkreten Namen, deren Verbreitung (etwa durch die Arbeitgeberverbände) den betroffenen Unternehmen erheblich weiterhelfen dürfte.
Schließlich ist hinsichtlich des hohen Beweiswerts einer AU-Bescheinigung auf die jüngst angestoßene Entwicklung des BAG hinzuweisen, die durchaus praxisnäher Unternehmen motivieren sollte, bei erheblichen Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit doch noch einmal kritisch nachzuhaken (vgl. hierzu die lesenswerte Zusammenfassung des Kollegen Dr. Hertzfeld https://efarbeitsrecht.net/kuendigung-und-arbeitsunfaehigkeit/).

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