Aber: Ganz ohne Arztkontakt geht es nicht
Geklärt ist gleichwohl, dass die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit allein durch die Nutzung einer Website oder App (durch das Anwählen vorgefertigter Antworten) ohne direkten Kontakt per (Mobil-)Telefon oder Video zwischen Ärztin oder Arzt und Patientin oder Patient, nicht zulässig ist. Eine so erlangte AU-Bescheinigung ist mit der AU-Richtlinie nicht zu vereinbaren; ihr kommt zudem kein Beweiswert zu und die Anbieter solcher Geschäftsmodelle handeln gleichzeitig wettbewerbswidrig.
1. Die Online-AU-Bescheinigung ohne Arztkontakt hat keinen Beweiswert
Die Rechtsprechung hat über Jahrzehnte der ordnungsgemäß erlangten AU-Bescheinigung einen sehr hohen Beweiswert eingeräumt, der von Seiten der Unternehmen kaum zu erschüttern war. Dies beruht auf der Überzeugung, dass der Arzt oder die Ärztin aufgrund des (langjährigen) persönlichen Kontakts zur Patientin bzw. zum Patienten die Auswirkungen der Krankheit auf die Arbeitsfähigkeit am besten einschätzen kann und diese Bewertung rechtlicher Überprüfung nur im Einzelfall zugänglich sein soll.
Ohne persönlichen Kontakt ist dieser Beweiswert aber erschüttert. Das haben zuletzt gleich mehrere Arbeitsgerichte für diejenigen Fälle bestätigt haben, in denen überhaupt kein Kontakt zum Arzt bestand. Intensiver mit der Frage beschäftigt hat sich etwa das ArbG Berlin. Einer Online-AU-Bescheinigung, die erteilt wird, obwohl die ausstellende Ärztin den Patienten weder persönlich untersucht hat noch ein persönliches oder telefonisches Gespräch stattfand, kann kein Beweiswert zukommen (ArbG Berlin, Urt. v. 1.4.2021 – 42 Ca 16289/20). Das ArbG Berlin betont mit Blick auf die wettbewerbsrechtlichen Entscheidungen, dass nicht einmal in einer Ausnahmesituation wie der Covid19-Pandemie eine AU-Bescheinigung „mit einem geringeren persönlichen Kontakt als einem Telefonat zulässig sein soll.“
HR-Praxistipp:
Unternehmen sollten durch Rundmail / Mitteilung im Intranet o.ä. darauf hinweisen, dass eine über die immer weiter auf dem Vormarsch befindlichen Angebote (etwa au-schein.de u.a.) erlangte AU-Bescheinigung entgegen der (rechtswidrigen) Werbung auf der jeweiligen Seite keine Entgeltfortzahlungspflicht auslöst und ggf. zu ernsthaften Konsequenzen im Arbeitsverhältnis führen kann. Erschleichen sich Beschäftigte unberechtigt die Entgeltfortzahlung, stellt dies einen vollendeten Betrug dar, der regelmäßig eine verhaltensbedingte fristlose Kündigung rechtfertigt.
2. Die Werbung für solche Geschäftsmodelle ist wettbewerbswidrig
Die Werbung für eine Online-AU-Bescheinigung ohne Arztkontakt ist zudem wettbewerbswidrig. Dies wurde sowohl vom LG Hamburg als auch in der nachfolgenden Instanz vom OLG Hamburg festgestellt (LG Hamburg, Urt. v. 3.9.2019 – 406 HKO 56/19, OLG Hamburg, Urt. v. 5.11.2020 – 5 U 175/19). Es sei mit der ärztlichen Sorgfalt nicht vereinbar, wenn die Ärztin oder der Arzt auf den persönlichen Kontakt mit Patienten verzichte, bevor sie oder er eine AU-Bescheinigung ausstelle.
Eine derartige Werbung verstoße gegen § 9 HWG und stelle damit ein Wettbewerbsverstoß gemäß § 3a UWG dar. § 9 HWG verbietet Werbung für Fernbehandlungen. Allerdings enthält der neu eingeführte Satz 2 eine Ausnahme vom Werbeverbot für den Fall, dass für die beworbene Behandlung nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit der Patientin oder dem Patienten nicht erforderlich ist (zu den Einzelheiten siehe unsere Blogs). Diese fachlichen Standards werden aber nicht eingehalten, wenn gänzlich auf den ärztlichen Kontakt verzichtet wird.