Kommt das Recht auf digitale Unerreichbarkeit für Arbeitnehmer?
Seit Januar 2017 gilt in Frankreich ein gesetzliches Recht für Arbeitnehmer auf digitales Abschalten nach Dienstschluss – eine weltweit bislang einmalige Regelung. In Deutschland diskutiert das Arbeitsministerium noch. Das Gesellschaftsthema schrankenloser Verfügbarkeit durch die digitale Revolution wird ein Rechtsthema für die Arbeitswelt.
Nachhaltige Veränderung bringt aber wohl weniger ein neues Gesetz als ein – rechtlich gestalteter – Kulturwandel: Gesundheitsschutz wird wichtiger, sonst drohen vielerorts Leistungsabfall, Burn-out und Know-how-Verlust. Unternehmen könnten häufige Ansprache von Mitarbeitern außerhalb der Arbeitszeit als Zeichen mangelhafter Arbeitsorganisation ihrer Führungskräfte bewerten – und zum Beispiel ein Meldesystem einrichten. Handeln müssen Gesetz- und Arbeitgeber in jedem Fall: Um vor allem qualifizierte Mitarbeiter besser zu schützen, werden neue Rahmenbedingungen zur Entschärfung der „digitalen Fußfessel" unverzichtbar.
Im Folgenden die wichtigsten Punkte zum Thema in Stichworten:
Frankreich: Seit 1. Januar gilt für Arbeitnehmer ein Recht auf digitales Abschalten nach Dienstschluss
Hintergrund der neuen französischen Gesetzgebung: Kein Arbeitnehmer soll Nachteile befürchten müssen, weil er außerhalb der Arbeitszeit für Vorgesetzte oder Kunden nicht erreichbar ist. Ziel ist besserer Schutz vor dauernder Verfügbarkeit für Vorgesetzte und Kunden, die psychischen Druck und Burn-out auslösen kann. Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitern müssen mit Sozialpartnern oder intern aushandeln, wie ihre Arbeitnehmer geschützt werden sollen. Nichtbeachtung bleibt aber straflos.
Umgekehrt sollen auch Unternehmen sicher sein können, dass Mitarbeiter eine Verfügbarkeit nach Dienstschluss und im Urlaub nicht als Überstunden abrechnen können.
Einige Unternehmen in Frankreich haben Vorreiterregelungen, Beispiel Axa: Abends oder am Wochenende erhaltene E-Mails erfordern keine schnelle Antwort.
Deutschland: Brauchen wir auch ein gesetzliches Recht auf Unerreichbarkeit?
Es gibt gesetzliche Rahmenbedingungen zur Arbeitszeitgestaltung – die sind aber lückenhaft, und es gibt kaum Kontrollen und Sanktionen bei Missbrauch. Beispiele:
- Keine Pflicht zu Überstunden, außer in Notfällen
- Arbeitshöchstdauer von 8, vorübergehend auch 10 Stunden, Mindestruhezeit von 11 Stunden und grundsätzliches Verbot von Sonn- und Feiertagsarbeit
- Arbeit muss vergütet werden, und damit auch Überstunden. In welchen Fällen und in welcher Höhe, ist nicht klar geregelt. Führungskräfte mit Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze für die Rente (76.200 Euro) gehen in der Praxis oft leer aus. In wie weit digitale Erreichbarkeit vergütungspflichtig sein kann, ist ungeklärt.
Zur Arbeitszeitgestaltung sind auch Betriebsvereinbarungen in Unternehmen möglich. Der Betriebsrat kann seine Initiativ- und Mitbestimmungsrechte nutzen und mit dem Arbeitgeber betriebliche Ordnung, Beginn und Ende der Arbeitszeit und Gesundheitsschutz regeln. VW ist hier Vorreiter – auf Initiative des Betriebsrats wird seit 2011 bei 1.100 Mitarbeitern mit Blackberry – aber nicht bei Managern – die Verbindung zum Mailserver nach Feierabend gekappt.
Das Arbeitsministerium diskutiert im neuen Weißbuch Arbeit 4.0 neue „flexible Arbeitsmodelle". Die Positionen:
- Arbeitgeber wollen Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes zur Höchstarbeitszeit und Ruhezeit öffnen, um den gegenläufigen Bedarfen der Betriebe besser gerecht zu werden.
- Gewerkschaften fordern neue Rechte für Beschäftigte, darunter ein Recht auf Nichterreichbarkeit. Sie beklagen Kontrolldefizite bei der Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes.
Notwendig ist ein rechtlich flankierter Kulturwandel
Faktisch nehmen Arbeitnehmer die „digitale Fußfessel" bislang meist in Kauf – aus Angst vor Karrierenachteilen, nicht vor Sanktionen. Die Gefahr chronischer Überforderung und Burn-out wächst. Konzepte für ein Recht auf temporäre Unerreichbarkeit werden unverzichtbar, gerade mit Blick auf qualifizierte Mitarbeiter (und Bewerber), die laut demografischen Prognosen immer schwerer zu bekommen sind. Am nachhaltigsten wirkt ein rechtlich abgesicherter Kulturwandel. Dabei tritt etwa Gesundheitsschutz stärker in den Vordergrund.
Mögliche Instrumente zur Durchsetzung digitalen Abschaltens
Eine radikale Lösung könnte etwa darin bestehen, nach Dienstschluss die Serververbindung aus dem Unternehmen für Mitarbeiter zu kappen oder Emails zu löschen.
Vermittelnde Lösungen könnten zum Beispiel sein, in Zielvereinbarungen für Führungskräfte festzulegen, dass sie nur innerhalb der Kernarbeitszeit mit Mitarbeitern arbeitsbezogen kommunizieren. Auch könnten Unternehmen ein automatisiertes Ampelsystem für Vorgesetzte auf Basis der Anzahl und Uhrzeit verschickter Emails einrichten. Schutzmaßnahmen für die Vorgesetzten/Manager selbst werden bisher nicht thematisiert. zum Welt-Artikel