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Neues Risiko bei Massenentlassungsanzeigen: Unwirksamkeit bei Fehlen der Soll-Angaben

entlassung
Eine durch ein Unternehmen ausgesprochene, gemäß § 17 Abs. 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) anzeigepflichtige Kündigung ist unwirksam, wenn die erforderliche Massenentlassungsanzeige nicht die Soll-Vorgaben des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG enthält. Dies gebiete eine unionsrechtskonforme Auslegung der Norm. So hat nunmehr das LAG Hessen mit Urteil vom 25. Juni 2021 (14 Sa 1225/20) entschieden und damit überraschenderweise die vorangegangene Entscheidung des ArbG Frankfurt vom 16. September 2020 (11 Ca 4532/19) bestätigt.

I.

Hintergrund der Entscheidung

Pflicht zur Erstattung einer Massenentlassungsanzeige

Gemäß § 17 Abs. 1 KSchG ist ein Unternehmen verpflichtet, der zuständigen Agentur für Arbeit vor einer Entlassung Massenentlassungsanzeige zu erstatten, wenn die nachfolgenden Schwellenwerte innerhalb von 30 Kalendertagen erreicht werden. Bezugspunkt ist dabei der einzelne Betrieb eines Unternehmens.
Anzahl regelmäßiger Arbeitnehmer:innenAnzahl Entlassungen
21 bis 59
Mehr als fünf Entlassungen
60 bis 499
Mehr als 25 Entlassungen oder 10 Prozent der Arbeitnehmer:innen
Ab 500
Mindestens 30 Entlassungen
Das Massenentlassungsanzeigeverfahren verfolgt arbeitsmarktpolitische Ziele. Durch die Massenentlassungsanzeige sollen die Agenturen für Arbeit rechtzeitig gezielte Maßnahmen zur Vermittlung der betroffenen Arbeitnehmer:innen auf dem Arbeitsmarkt treffen und dessen Belastung steuern können. § 17 Abs. 1 KSchG dient der Umsetzung der Richtlinie der Europäischen Union zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über Massenentlassungen (EG-RL 98/59/EWG; sog. Massenentlassungsrichtlinie / „MERL“) vom 20. Juli 1998.

Form und Inhalt der Massenentlassungsanzeige

Gemäß § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG muss die in Textform (ausreichend sind also auch Fax oder E-Mail) zu erstattende Anzeige folgende Angaben enthalten („Muss-Angaben“):
  • den Namen des:der Arbeitgebers:Arbeitgeberin,
  • den Sitz und die Art des Betriebs,
  • die Gründe für die geplanten Entlassungen,
  • die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer:innen,
  • den Entlassungszeitraum und
  • die Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer:innen.
In § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG sind ferner folgende weitere Angaben aufgeführt, die im Einvernehmen mit dem Betriebsrat gemacht werden sollen („Soll-Angaben“):
  • das Geschlecht,
  • das Alter,
  • der Beruf und
  • die Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer:innen.
Bislang galt, dass eine anzeigepflichtige Kündigung jedenfalls unwirksam ist, wenn die Massenentlassungsanzeige insgesamt unterbleibt oder die Anzeige die Muss-Angaben fehlerhaft oder unvollständig enthält. Das Fehlen oder die Unvollständigkeit der Soll-Angaben hatte auf die Wirksamkeit der Kündigung keine Auswirkungen. Die zuständige Agentur für Arbeit konnte dies lediglich im Rahmen ihrer Entscheidung über die Dauer der Sperrfrist berücksichtigen.

II.

Die Entscheidung des LAG Hessen

Gegen diese bisher ganz herrschende Meinung in Wissenschaft und Praxis stellt sich nun das LAG Hessen mit seiner Entscheidung vom 25. Juni 2021. Nach Ansicht des Gerichts ist eine anzeigepflichtige Kündigung auch dann unwirksam, wenn die in § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG aufgeführten Soll-Angaben fehlen.
Ein derartiges Verständnis der Norm sei europarechtlich durch die der Vorschrift zugrundeliegende Massenentlassungsrichtlinie der Europäischen Union geboten. Diese schreibt vor, dass die Unternehmen der Arbeitsagentur alle zweckdienlichen Angaben über die beabsichtigte Massenentlassung zu machen haben. Im Wortlaut der Richtlinie wird dabei – anders als in der nationalen Umsetzungsnorm des § 17 Abs. 3 KSchG – nicht zwischen Muss- und Soll-Angaben unterschieden. Daraus schließt das LAG Hessen, dass auch die als Soll-Angaben ausgestalteten Merkmale bei Erstattung der Massenentlassungsanzeige zwingend anzugeben seien und ihr Fehlen oder ihre Unvollständigkeit zur Unwirksamkeit der anzeigepflichtigen Kündigungen führe. Denn auch die Merkmale Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer:innen seien dem Zweck der Massenentlassungsanzeige dienlich, die Erleichterung der Vermittlungsmaßnahmen der Agentur für Arbeit. Die in der Norm angelegte Unterscheidung zwischen Muss- und Soll-Angaben sei damit zu begründen, dass die Muss-Angaben dem Unternehmen ohnehin bekannt sein dürften und somit stets mitzuteilen seien, wohingegen die Soll-Angaben ggf. weiterer Nachforschungen bedürften und damit eine Mitteilungspflicht der Unternehmen nur bei Kenntnis bestünde.

III.

Stellungnahme: Nationaler Gesetzgeber regelt Rechtsfolge von Fehlern im Anzeigeverfahren.

Mit seiner Entscheidung setzt das LAG Hessen die Hürden für die in der Praxis ohnehin schon sehr fehleranfällige ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige noch einmal nach oben.
Die Begründung des LAG Hessen erscheint jedoch zweifelhaft. Zwar ist dem Gericht dahingehend zuzustimmen, dass auch die Soll-Angaben des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG zweckdienlich im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie sein dürften. Dies entschied bereits das Bundesarbeitsgericht (Urteil vom 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19). Auch ergibt sich aus der Massenentlassungsrichtlinie, dass den Arbeitsagenturen grundsätzlich alle zweckdienlichen Angaben mitzuteilen sind.
Daraus folgt jedoch nicht gleichsam zwingend, dass jedes Fehlen zweckdienlicher Angaben zur Unwirksamkeit einer anzeigepflichtigen Kündigung führt. Die Rechtsfolge einer fehlenden oder nicht ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige ist in der Massenentlassungsrichtlinie der Europäischen Union nicht geregelt. Ihre Festlegung obliegt damit in den Grenzen des europarechtlichen Grundsatzes, wonach Verstöße gegen unionsrechtliche Vorgaben wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sanktioniert werden müssen, dem nationalen Gesetzgeber. In diesem Rahmen hat der deutsche Gesetzgeber einen Umsetzungsspielraum. Er ist berechtigt, verschiedenartigen Fehlern auch unterschiedlich scharfe Rechtsfolgen zuzuordnen. So ist es zulässig und insbesondere verhältnismäßig, bestimmte Angaben zwar als zweckdienlich, gleichwohl aber weniger relevant für die Vermittlungstätigkeiten der Arbeitsagenturen zu qualifizieren und damit auch weniger scharfe Rechtsfolgen an ihr Fehlen zu knüpfen. Diesen Grundsätzen entspricht die deutsche Regelung des § 17 Abs. 3 S. 4 und 5 KSchG. Zwar sind im KSchG Rechtsfolgen von Verstößen gegen das Anzeigeverfahren nicht ausdrücklich geregelt. Vielmehr wird die Unwirksamkeitsfolge nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nach allgemeinen Regeln aus § 134 BGB hergeleitet. Die in § 17 Abs. 3 KSchG angelegte Unterscheidung zwischen Muss- und Soll-Angaben macht jedoch deutlich, dass – wie bislang gehandhabt – an Verstöße gegen Soll-Angaben schwächere Rechtsfolgen geknüpft werden.

IV.

Hinweis für die Praxis

Bis zu einer Klärung der durch das LAG Hessen aufgeworfenen Fragen durch das Bundesarbeitsgericht ist Unternehmen dringend zu empfehlen, bei Durchführung des Anzeigeverfahrens künftig auch die Soll-Angaben zum Geschlecht, Alter, Beruf und zu der Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer:innen zu machen.
Dies kann zwar im Einzelfall zu einem nicht unerheblichen Mehraufwand führen, sollten die entsprechenden Angaben dem Unternehmen nicht bekannt sein. In diesem Fall sind weitere Nachforschungen anzustellen; sollten diese trotz engagierter Bemühungen des Unternehmens nicht erfolgreich sein, ist dies nachweisbar zu dokumentieren. Gleichwohl lohnen sich diese Anstrengungen, um eine Vielzahl unwirksamer Kündigungen mangels ordnungsgemäßer Massenentlassungsanzeige zu vermeiden.

ACHTUNG:

Der Vordruck zur Erstattung der Massenentlassungsanzeige auf der Website der Bundesagentur für Arbeit fragt die o.g. Soll-Angaben nicht ausdrücklich ab, sondern verweist dazu auf einen weiteren Vordruck (vgl. Feld Nr. 34). Dieser ist mit „Angaben für die Arbeitsvermittlung“ (Vordruck „BA-KSchG2“) überschrieben und sollte von Unternehmen künftig zusätzlich ausgefüllt werden.
Im Übrigen bleibt zu hoffen, dass das Bundesarbeitsgericht zeitnah entscheidet, um die entstandene Rechtsunsicherheit für Unternehmen zu beseitigen.

V.

Zusammenfassende Checkliste:

Erforderliche Inhalte einer Massenentlassungsanzeige:

  • Namen des Unternehmens
  • Sitz und Art des Betriebs
  • Gründe für die geplanten Entlassungen
  • Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden + regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer:innen
  • Entlassungszeitraum
  • Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer:innen
  • Geschlecht der zu entlassenden Arbeitnehmer:innen
  • Alter der zu entlassenden Arbeitnehmer:innen
  • Beruf der zu entlassenden Arbeitnehmer:innen
  • Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer:innen

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